Alien Contact-Jahrbuch 2002

Alien Contact-Jahrbuch 2002

Shayol Verlag, Taschenbuch
Titelbild von Thomas Thiemeyer
März 2003, 17,90 Euro, 304 Seiten

Jedes Jahr zu Frühlingsbeginn beglückt der Heyne-Verlag die Science Fiction-Leser mit seinem einzigartigen SF-Jahrbuch (»Das Science Fiction Jahr«). Für viele ist es eine notwendige Informationsgrundlage, für andere eine Datenwüste, doch trotz seiner geringen Auflage und seinem hohen Preis, ist es immer noch der beste Beweis, das man bei Heyne der Science Fiction treu bleibt.

Nachdem das Magazin Alien Contact 42 Ausgaben lang als semiprofessionelles Printmagazin erschien, wurde es Anfang 2002 in ein Onlinemagazin umgewandelt. Doch die Macher haben sich entschlossen, doch noch einmal im Jahr die Druckerpresse anzuwerfen und ein Jahrbuch herauszugeben. Dieser Sammelband versammelt auf über 300 Seiten die meisten Artikel aus dem Onlineangebot, dazu einen Teil der Besprechungen und viele Informationen. Das Buch ziert ein schönes Titelbild von Thomas Thiemeyer.

Insgesamt zehn Kurzgeschichten finden sich in diesem Band. Den Auftakt macht Alexander Weis mit seiner vergnüglichen kurzen Episode »BRA BEL 3«. Ein Raumfahrer gerät durch ein Buch in Schwierigkeiten und muß auf einem Planeten notlanden. Lustig, spritzig, kurzweilig, und eine Parodie auf die sozialistische Druckkunst mit seinen geplanten Literaturversuchen.

Ekkehard Redlins „Astralo“ ist eine Spielerei mit den Göttern und Sagen. Alois begegnet verschiedenen anbetungswürdigen Persönlichkeiten, lernt sie und ihre Geschichte kennen, nur um dann zu einfachen Erkenntnissen zurückzukehren. Anfangs etwas steif und kompliziert konstruiert, gewinnt die Geschichte im Verlauf an Charme.

„Wenn dich der Bluesmann holen kommt“ von Thorsten Küpper ist eine brillante Hommage an den Starkult und die extremen Auswüchse, die aus dem frühen Tod einer abgehalfterter Stars erwachsen. Anhand des Beispiels Nazareth spiegelt sich die Geschichte wider – Jim Morrison, Jimmy Hendrix, Janis Joplin, Elvis oder Kurt Cobain sind vielleicht auch dem Bluesmann begegnet. Satirisch, bitter, gut geschrieben, originell und aktuell.

Arno Behrends „Undank ist der Quanten Lohn“ ist eine Variante der Quantenphysik. Nichts ist wie es scheint und Planungen sind nicht möglich. Eine nette Idee mit einer durchschnittlichen Ausführung. Die Geschichte wirkt im Ganzen leider so, als sei sie im Gegensatz zur Quantenphysik geplant.

Eine der längsten Geschichten stammt von Elizabeth Hand und wurde 1992 für den Locus- und den Nebula-Award nominiert. In Alien Contact erschien sie in zwei Teilen. Die Hauptperson ist ein kleiner Junge, dem ein indianisches Artefakt vererbt wird. Dieses ermöglicht ihm seine Gestalt zu ändern. Er begegnet einem Astronauten, der für seinen Mondsparziergang berühmt geworden ist, ohne je einen Fuß auf den Trabanten gesetzt zu haben. In den Ruhestand getreten und gänzlich alleine, beschäftigt er sich mit dem Scheitern und dem Tod. Eine gefühlvolle Erzählung, die phantastische Elemente mit der Realität verknüpft, daß vor nicht allzu langer Zeit Menschen auf dem Mond waren und das Gefühl, daß die Erinnerungen an diese wunderschönen Ereignisse wie in einem Nebel verschwinden. Eine würdige Vertreterin der angelsächsischen Literatur.

Erik Simons „Die drei Königinnen“ ist eine typische, moralisch unterstrichene Märchengeschichte. Wie nur noch wenige, verpackt Simon seine Botschaft in einen lesenswerten Mantel. Es läßt sich trefflich streiten, ob in unserer Zeit die äußere Form noch angemessen ist, aber die Geschichte liest sich amüsant und kurzweilig.

Myra Cakan kommt mit „Nachtbrenner“ (weder verwandt noch verschwägert mit der Jugendroman-Reihe aus dem Argument-Verlag) daher. Eine spannende, dramatische Space Opera, die auf dem Mars spielt und den Konflikt zwischen den Siedlern und den von der Erde kommenden Soldaten schildert. In dieser Trostlosigkeit gibt es aber auch Gefühle, Liebe und schließlich den Verlust. Eindrucksvoll stilistisch, inhaltlich kompakt überzeugt der Text mehr als ihre letzten Romane.

Gerd Freys „Terminiert“ erschien auch in der Sammlung „Dunkle Sonne“. Als eine abgewandelte Form der Ideen von „Welt am Draht“ wirkt die Geschichte unausgegoren, spröde und von der Grundszenerie wenig überzeugend. Auf den wenigen Seiten findet der Leser keinen Bezug zu seinen Charakteren und bleibt bei den geschilderten Ereignissen außen vor.

Alexander Weiss‘ Glosse „Appell für die bemannte Raumfahrt“ ist leider nicht mehr als eine Stilübung, ironisch punktiert vorgetragen vom Ich-Erzähler, der über seinen Beruf, seine Zukunftsaussichten und seine Erfahrungen sinniert.

George R.R. Martins Geschichte „Brot und Fische“ stammt aus dem Jahr 1985 und dem Analog-Magazin. Gesammelt erschienen die Stories um den pfiffigen interstellaren Händler Tuf in der Anthologie „Tuf Voyaging“. Tolly Mune ist die Hafenmeisterin der Orbitalgemeinschaft S’uthlam. Eines Tages taucht eine Arche, ein riesiges Raumschiff über den Orbitalhäfen auf. Die Arche ist ein Saatschiff für die biologische Kriegsführung des ökologischen Pionierkorps und Tuf hat dieses Schiff im All gefunden. Jetzt benötigt er dringende Reparaturen, doch keine der verschiedenen politischen Parteien möchte auf diesen wertvollen Fund verzichten und nachdem alle Kaufverhandlungen gescheitert sind, denkt man über das gute alte Mittel der Enteignung nach…

Martin ist der geborene Geschichtenerzähler. Wie kaum ein anderer Autor fühlt er sich in allen Genres zu Hause, aber nur wenige seiner Arbeiten sind der echten Space Opera zuzuordnen. Tuf ist ein cleverer Geschäftsmann, der mit seiner unschuldigen unbeholfen wirkenden Art die Gegenseite täuscht, um dann eiskalt nach seinem Vorteil zu greifen. Mit einer inneren Befriedigung spielt er die verschiedenen Parteien gegeneinander aus, scheinbar hilflos und nur darauf bedacht, seinem Beruf nachzugehen (dazu braucht er das Schiff), während die anderen Gruppe gierig und sich die Hände reibend nach dem vermeintlichen Fisch im Netz greifen möchten. Originell, lustig, klug und abenteuerlich erzählt hat die Geschichte auch nach siebzehn Jahren nichts von seiner Aktualität verloren.

Norman Spinrad war Ehrengast der Dort.Cons 2002 in Dortmund. Grund genug neben einem Interview auch ein Essay zu präsentieren, das zwar aus dem Jahre 1985 stammt, dessen Thematik »Muß es Krieg geben?« aber brandaktuell ist. Spinrad setzt sich gewohnt kritisch mit einer Unterart der Science Fiction auseinander, die für ihn die Oberhand gewonnen hat, nämlich billige effekthascherische kriegerische SF, die die Regale verstopft. Sich selbst sieht er natürlich als Vertreter, der das Denken erweiternden SF. Eines der weiteren positiven Beispiele ist »Dune – der Wüstenplanet«, aber ungewöhnlich scharf geht er dafür mit dem letzten Dorsai-Romans ins Gericht. Das ist vielleicht auch der erste Schwachpunkt dieses Artikels, denn auch Spinrads Werk könnte die gleichen Angriffe hervorrufen. Spinrad ignoriert hier die Tatsache, daß es nicht jedermanns Sache ist, nur Goethe zu lesen. Gerade die SF möchte manchmal auch unkritisch unterhalten und diesen Anspruch (wenn es ein Anspruch ist), läßt er nicht gelten. Es bleibt anzumerken, daß sich Spinrad durch seine dickköpfige Sturheit in den USA einige Kontakte verbaut hat und ein sehr guter Roman nun einmal nicht immer ein Kassenschlager werden kann oder muß. Leider hat man das Interview nicht um die Tatsache ergänzt, das der mehrfach angesprochene Roman »Der Druidenkönig« inzwischen auf Deutsch bei Blanvalet erschienen ist.

Myra Cakans Interview mit David Duchovny zum Kinoflop »Evolution« bringt außer der üblichen Public Relations-Sauce keine weiteren Informationen und wirkt deshalb veraltet und oberflächlich (»Sie haben fünf Minuten um ihre Fragen zu stellen. Die Zeit läuft!«). Auch wenn der AKTE X-Star einen Namen hat, hätte man auf diesen Text entweder verzichten oder ihn in den Kontext des Films mit entsprechender Kritik stellen müssen.

Franz Rottensteiner bringt in seinem nostalgischen Rückblick auf deutsche SF-Magazine wenig Neues (jedes Jahr haben wir diese Art von Hommage) und drückt dabei etwas zu sehr auf die Tränendrüse. Natürlich war es für einen Jugendlichen ein Erlebnis, die erste Ausgabe eines neuen Magazins in den Händen zu halten, aber auch in der heutigen Zeit erfreut uns jeder neue gelungene Versuch. Man muß die Erwartungshaltung ein bißchen der Realität anpassen, denn zu viele Menschen hängen nur an der Vergangenheit und übersehen, daß auch damals die Produkte fehlerhaft waren. Als persönliche Diskussionsgrundlage eine interessante These, mehr aber auch nicht, da gerade die Betrachtung des aktuellen Magazins-Marktes erhebliche und unverständliche Lücken aufweist.

Gerd Frey beschäftigt sich mit Rollenspielen. Zu kurz um mehr als oberflächliche Informationen zu geben, zu lang für die Insider. Also weder Fisch noch Fleisch.

Der populäre Autor Adam Roberts beschäftigt sich in seiner ausführlichen These mit dem Science Fiction-Gehalt von Swifts Roman „Gullivers Reisen“ und betont die satirischen Elemente. Es ist amüsant, die Frage zu diskutieren, ob es SF ist oder nicht, auf jeden Fall handelt es sich um ein schönes, lesenswertes Buch und das ist mehr wert als die Zwangsjackendiskussionen der Theoretiker. Der Vorteil an Roberts amüsanter Darstellung ist die Leichtigkeit, mit der er sich dem Text widmet und das bleibt dem Leser auch im Gedächtnis.

Andreas Gruber bringt eine TOP-Liste der cleversten Filme seiner Videosammlung, was in einem Jahrbuch in dieser Form deplaziert wirkt. Besser wäre es da gewesen, man hätte den Text in die Filmempfehlungen eingebaut („Die cleversten, interessanten, unterschätztesten Filme des letzen Jahres“).

Bezeichnend ist ein von Hans-Peter Neumann geführtes Interview mit Erik Simon unter dem Titel „Wieso denn Kasanzew“: Es ist lesenswert bezüglich der Informationen über die Möglichkeit der Publikation sowjetischer Phantastik in den DDR-Verlagen, denn hier gibt Simon ausführlich, anschaulich und lesenswert Auskunft. Nur leider reicht diese Antwort Mulder Neumann nicht, er will unbedingt wissen, ob der Denunziant Kasanzew bewußt geschnitten worden ist. Eine Art heroische Widerstandsbewegung in den deutschen Verlagen gegen die Unbillen des sowjetischen Machtapparats. Schließlich wird Simon diese Fragerei zu bunt und er setzt Neumann stellvertretend für einige Spinner, die den wahren Stellenwert der Literatur in der Gesellschaft und vor allem im Leben nicht erkannt haben, sehr pointiert auf den Pott. Einige sehr interessante Antworten im Kontrast zu einem Musterbeispiel für einen Interviewer, der seine Meinung vorgefertigt in der Schublade liegen hat und es nicht verkraften kann, wenn Anspruch und Wirklichkeit sich nicht in Einklang bringen lassen.

Hardy Kettlitz stellt im Anschluß kurz die drei Romane von Walter Moers vor, bevor dieser mit einem Teil seines Essays „Von Tagtraum zum Traumbuch“ über die Entstehung von „Wilde Reise in die Nacht“ philosophiert. Der Kettlitz-Artikel ist eine schwärmerische Farce, während Moers leider zu kurz zu Wort kommt. Natürlich kann man den Rest des Essays auf seiner Internetseite nachlesen, doch hier berichtet ein faszinierender Autor über die ungewöhnliche Entstehung eines der besten Bücher des Jahres 2002 und damit wäre es in einem gedruckten Jahrbuch Pflicht gewesen, alles abzudrucken. Schließlich soll das Jahrbuch ja genau für die Leser produziert werden, die eben nicht dauernd nur alles im Internet nachlesen wollen.

Tim Powers und Dirk Berger führten bei einem Programmpunkt im Rahmen des Elstercons 2002 ein sehr interessantes Gespräch, bei dem es nicht nur um Powers‘ Werke und seinen ehemaligen Nachbarn Philip K. Dick ging, sondern in erster Linie auch um die Inspiration des amerikanischen Autors und seine Quellen. Diese Transkription ist eine sehr gute Ergänzung zu den Romanen des sehr vielseitigen Autoren Tim Powers.

Gregor Jungheims „Wer will schon was von Aliens wissen?“ und Hannes Riffels Erwiderung „Wer will schon was von Büchern wissen?“ entfachen die Diskussion über gute SF und schlechte Literatur, das Ansehen unseres Genres im Vergleich zum Thriller, die Gegenüberstellung von Qualität (an Hand des Programms des Argument-Verlages und einem neuen Autoren aus dem Heyne-Verlag) und Verkaufszahlen. Natürlich ist nicht alles Gold was glänzt, doch viele der Probleme, die hier angesprochen worden sind, sind nicht genretypisch und ziehen sich durch die gesamte Verlagsszene. Besonders Gregor Jungheim möchte einem Ideal folgen, das nicht funktioniert. Er listet verschiedene Argumente auf, verfolgt sie kurz weiter und stellt sie dann in den Raum. Vielleicht geht einigen Lesern inzwischen diese Aufklärerhaltung ab, denn in Zeiten der Science Fiction-Schwemme hatten viele Kritiker die gleichen Argumente (Qualität wird in der Menge begraben, heute kann sie sich wegen schlechter Verkaufszahlen nicht durchsetzen), wahrscheinlich liegt die Wahrheit in der Mitte, denn wenn wir nur noch „gute“ Romane publizieren, werden andere Stimmen laut, die auch unterhaltsame Texte verlangen. Immer noch hat der interessierte Leser die Möglichkeit, gute und schlechte Romane zu lesen und zu kaufen, viele Klassiker finden sich bei Antiquariaten oder im Internet (eBay) und oft gilt der alte Spruch: Masse ist nicht gleich Klasse.

Andreas Eschbach und Thomas Thiemeyer sprachen beim ElsterCon 2002 über ihre Zusammenarbeit beim SF-Roman „Quest“, der sicherlich einer der Publikationshöhepunkte im Rahmen der Heyne-Verlagsreihes war. Und obwohl sich über den Inhalt des Romans trefflich streiten ließe, gibt die Paperbackfassung alleine durch die Gemälde Thiemeyers einen brillanten Eindruck wider. Verschiedene Hörerfragen runden den unterhaltsamen Text ab.

„History“ war schon in den AC-Printausgaben eine lehrreiche Sparte. SF-Ereignisse vor 25, 50, 75 und 100 Jahren werden hier in ihren geschichtlichen Kontext gesetzt und sind in einem Jahrbuch noch besser plaziert als in den einzelnen Magazinen.

Es folgen einige Kolumnen von John Clute unter dem Titel „Gefährlich ehrlich“. Das ist originell, besonders in dem Zusammenhang mit den übrigen Kritiken. Bei letzteren hat der Betrachter mehr als einmal das Gefühl, die Rezensionsexemplarpipeline ist wichtiger als eine umfassende, ehrliche Kritik. John Clute könnte das ausgleichen, doch meistens stellt er empfehlenswerte und herausragende Romane vor.

„25 Jahre Star Wars“ bietet einen Rückblick, Überblick und Ausblick über die populäre Filmreihe, die auch in der artenbedrohenden Gefahr steht, sich selbst zu eliminieren. Auf der anderen Seite könnte man die alten Filme wieder ansehen, um sich daran zu erinnern, wie alles begonnen hat. Außerdem sind 25 Jahre auch ein Anlaß, diese Filme wieder einmal zu würdigen, auch wenn nichts Neues auf den Seiten steht.

Zum Abschluß finden die Leser einen Überblick über die wichtigsten Bücher des Jahres, die Phantastik aus Deutschland und die interessantesten Filme und Computerspiele. Auch wenn die Diskussion aufflammen wird, sind die Rezensionen höchstens Buchvorstellungen (genauso die Film- oder Spielebesprechungen) mit wenig kritischem Beiwerk, aber in einem Jahrbuch unverzichtbar. Es folgen noch die Nachrufe (daran sieht man, welche großen Autoren und Schauspieler im letzten Jahr verlorengegangen sind) und die Preise und Auszeichnungen. Diese verschiedenen Features schließen den Band ab.

Für den regulären Leser des Onlinemagazins Alien Contact bietet der Band nichts Neues, aber für Altfans, die immer noch gerne ein Buch in den Händen haben, ist die Investition wohl schon ihr Geld wert. Neben einigen sehr guten Stories findet sich komprimiert ein Überblick über das Jahr, verschiedene Transkriptionen von Conprogrammpunkten, die mit einigen lesenswerten Essays oder Artikeln kombiniert wurden.

Es wäre allerdings schön, wenn der Begriff „Jahresband“ noch mit einigen, wenigen exklusiven Texten (Rückblick auf die Cons und Preise) abgerundet werden könnte, um für den Fan auch einen Kontrast zum Heyne-Jahresband zu bilden. Hier sollte der fannische Charakter noch mehr betont werden, ohne damit Rückschlüsse auf die Qualität ziehen zu können. Das Fandom sollte eine – zumindest schwache – Stimme finden, denn bei den geringen Auflagen finden sich die meisten Käufer sicher noch immer unter den Fans der SF.