Visionen einer Innenwelt – Ein Interview mit H.R. Giger

Der Schweizer Künstler H.R. Giger (1940-2014) verstarb am 12. Mai 2014 mit 74 Jahren an den Folgen eines Sturzes. Bekannt wurde Giger vor allem durch seine Arbeit für den Kinofilm »Alien«. 1980 erhielt er dafür den Oscar in der Kategorie »Beste Visuelle Effekte«. Giger wirkte bei zahlreichen Science-Fiction-Filmen mit, gestaltete Möbel und CD-Cover. Vor 25 Jahren, im Frühjahr 1989, führte Michael Marrak anlässlich der Veröffentlichung des Bildbandes BIOMECHANICS ein Interview mit H.R. Giger, das seinerzeit in der Ausgabe 3 des Science-Fiction-Magazins SPACE erschien und jetzt erstmals online veröffentlicht wird. »Visionen einer Innenwelt« war zugleich Marraks erste Textpublikation.

 

»Es gibt viele Gründe dafür, dass ich Maler geworden bin.
Ich kann mir gar nicht vorstellen, etwas anderes zu machen als zu malen, Tag für Tag, und das nun schon seit mehr als zwanzig Jahren. Dazu gehört eine große Portion Glauben an sich selber und an seine Arbeit sowie ein starkes Durchhaltevermögen, was mein Vater – wäre er noch am Leben – als krankhaft bezeichnen würde.
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Mit diesen Sätzen eröffnete der Schweizer Kunstmaler H.R. Giger seinen Ende letzten Jahres [gemeint ist das Jahr 1988] erschienenen Werkskatalog Biomechanics. Bereits vor zehn Jahren führte uns der Künstler mit Witz, Ironie, Sarkasmus und einer Prise schwarzen Humors durch sein Buch Necronomicon I, und auch diesmal ist seine Art, den Lauf der Dinge zu umschreiben, in keiner Weise verwildert, wenngleich seine Textbeiträge spärlicher geworden sind.

Doch wie tickt dieser Obskurant, der seine Ängste und apokalyptischen Visionen unverblümt und beunruhigend direkt in nahezu fotorealistischer Deutlichkeit zu Bild bringt, um laut eigener Aussage den Händen eines Psychiaters zu entgehen, wirklich? Kann ein Mann, der derartiges erschafft und Angst hat vor Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, noch lachen und Witze reißen – oder ist all dies nur eine Maske für eine verhasste Außenwelt? Ich besuchte H.R. Giger im März 1989 anlässlich der Veröffentlichung seines Bildbandes Biomechanics in seinem Domizil in Zürich, aber ob ich auf diese Fragen eine Antwort gefunden habe, kann ich bis heute nicht genau sagen.

Darum ging’s bei unseren beiden Besuchen: Gigers Biomechanics
Darum ging’s bei unseren beiden Besuchen: Gigers »Biomechanics«


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Die Schweizer sind freundlich und hilfsbereit, hatte man mir erzählt. Dass sie allerdings ihre Straßenbahn davonfahren lassen, um mir zu helfen, in der Telefonzelle das Telefonbuch nach einer Adresse zu durchwühlen, übertrifft meine Erwartungen. Als man mir dann auch noch auf dem Stadtplan erklärt, wohin ich gehen muss, welcher Weg der kürzere ist, wie lange ich zu Fuß brauche und man mir zu allem Überfluss noch eine Tüte heißer Maronen als Wegzehrung mitgibt, kann ich nur verlegen »danke« stammeln und mein Heil in der Flucht suchen, bevor man auf den Gedanken kommt, mir ein Fahrrad zu schenken oder mich vor die Haustür zu fahren. Als ich nach längerem Fußmarsch endlich die Straße gefunden habe, in welcher Giger laut Telefonbuch wohnt, stelle ich enttäuscht fest, dass ich an ihrem falschen Ende stehe. Hausnummer 112 lächelt mich schadenfroh an und weist mir den Weg in eine fast schnurgerade Straße hinunter, die rein optisch wieder in die Zürcher City zu münden scheint. Es ist verhältnismäßig heiß an diesem 13. März, und ich ärgere mich über die dicken Klamotten, die ich am Leib trage.

Da ich über die helvetische Geographie nicht besonders gut informiert bin, bringe ich das kleine Land immer mit dem Gebirge in Verbindung. Letzteres bedeutet Schnee, und selbiger Kälte. Nun war ich eines Besseren belehrt: keine Berge weit und breit.

Seit meiner Abfahrt aus Stuttgart mache ich mir Gedanken, was ich wohl sagen soll, wenn ich an Gigers Haustür stehe, und er – sofern er zuhause ist – öffnet. Aber keines meiner Wortgerüste erweist sich als tragbar genug für einen unangemeldeten Besuch. Dann stehe ich vor dem Haus mit der Nr. 5 – ich bin da. Die Fensterläden sind geschlossen, wilde Sträucher überwuchern den kleinen Vorgarten und lassen gerade genug Platz für ein Gartentor und reliefartige Steinfliesen, die zur Haustür führen. Auf dem Briefkasten steht in schräger Handschrift „Giger“, daneben klebt wie eine schwarze Blase seine Türklingel. Ich läute, höre aber kein Klingelzeichen im Haus. Kurz darauf wird die Tür geöffnet, und der Künstler schaut blinzelnd heraus. Seine Haare sind ein wenig zerzaust, und seine Füße stecken in den größten, grobschlächtigsten Stoffpantoffeln, die ich je gesehen habe. »Ja?«, fragt er und blickt mich mit einer Mischung aus Neugierde und etwas, das mich an einen Absatz aus seinem Artikel »Psychiater-Arbeit« in Necronomicon I erinnert: »Fans meiner Bilder sollten besser meine Poster und Kataloge kaufen, als auf einem Künstlerbesuch zu bestehen, mich dabei den Unterhaltungsclown spielen zu lassen, um auf meinen Wiener Stühlen zu verfaulen.«

Nun ja, das war vor zehn Jahren. Trotzdem kann ich mich eines gewissen Gefühls der Lästigkeit nicht erwehren. Ich stelle mich vor, und ehe ich den eigentlichen Grund meines Besuches anschneiden kann, winkt mich Giger überraschend hinein.

Kaum öffnet sich die Eingangstür, umfängt den Besucher ein obskurer Kosmos. Bemalte Türen und Wände, schwarze Schädelplastiken, auf dem Kopf stehende Kruzifixe und Dämonenskulpturen zieren Flure und Toilettentüren.
Kaum öffnet sich die Eingangstür, umfängt den Besucher ein obskurer Kosmos. Bemalte Türen und Wände, schwarze Schädelplastiken, auf dem Kopf stehende Kruzifixe und Dämonenskulpturen zieren Flure und Toilettentüren.


Als ich die Wohnung betrete, wechselt das Gefühl in mir in unterdrückte Ehrfurcht. Es ist, als durchschreite man das Tor zu einem dunklen, jenseits unserer Welt liegenden Tempel, einem obskuren Kosmos, der die Realität auf den ersten Blick wie ein Schwarzes Loch zu verschlucken scheint. Giger führt mich in eines seiner Wohnzimmer und bedeutet mir, an einem wuchtigen, schwarzen Tisch Platz zu nehmen, der die Mitte des Raumes beherrscht. Entschuldigend versucht er, ihn von Flecken und Farbresten zu säubern. »Das ist heute der sauberste Raum im Haus«, erklärte er. »Ich erwarte nämlich Besuch aus Rom wegen einer Ausstellung von mir und einem Projekt.« Nachdem er mir einen süßen italienischen Wein angeboten und uns beiden eingeschenkt hat, nimmt auch er Platz, und ich erkläre ihm in wenigen Sätzen den Grund meines Besuchs. »Aha!«, meint Giger, und als wäre dies ein persönliches Startsignal für ihn, steht er auf und holt eines seiner Skizzenbücher herbei.

Work in progress: Das Covermotiv für Steve Stevens Album »Atomic Playboys«
Work in progress: Das Covermotiv für Steve Stevens Album »Atomic Playboys«

Die ersten Zeichnungen, die er mir zeigt, sind Ölkreideskizzen für ein Meeting der Hells Angels in der Schweiz. »Denen soll ich ein T-Shirt-Motiv entwerfen«, erklärt er lächelnd und verdeutlicht mir die einzelnen Bildelemente: Splitterbomben, Blitze, Pentagramme, Teufel und deren Zusammenhang als Ganzes. »Kennen Sie den Steve Steven?«, fragt er mich, während er weiterblättert. »Das ist der Gitarrist von dem … dem … dem Rockstar, dem Billy Idol. Für den zeichne ich auch gerade ein Motiv für ein Plattencover. Atomic Playboys. Vielleicht kennen Sie das Plakat zu Future Kill. Das hat ihm imponiert, und jetzt möchte er ein ähnliches Bild von sich haben.« Er zeigt mir die Entwürfe. »Der sieht auf dem Bild, das er mir von sich gegeben hat, so mädchenhaft aus, dass ich für die Zeichnung schließlich auch ein Mädchengesicht als Vorlage benutzt habe«, verrät er amüsiert. Doch trotz der lockeren Art wirkt Giger nervös und rastlos. Als habe er meine Gedanken gelesen, steht er auf und läuft aus dem Zimmer. Irgendetwas klappert im Nebenraum, dann kommt er mit einer Polaroid-Kamera in der Hand zurück. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein Foto von Ihnen mache?«, fragt er. »Ich kann mir nämlich keine Gesichter merken. Es sei denn, es sind Leute mit total unförmigen Köpfen, verschrobenen Gesichtern oder nur einem Auge oder Arm. Oder schöne Frauen …« Er fotografiert und klebt das Bild neben meine Adresse, die ich in sein Skizzenbuch geschrieben habe. »Irgendwelche Kretine«, fährt Giger fort, als hätte er das zuvor noch vergessen zu sagen. »An die kann ich mich erinnern. Aber wenn normale Leute wiederkommen, weiß ich nie, wer’s ist.«

Harkonnen-Stuhl
In diesen Harkonnen-Stuhl setzte Giger all seine Besucher und lichtete sie mit seiner Polaroid ab. Es besaß ganze Alben mit Besucher-Polaroids (»Ich kann mir keine Gesichter merken«).

Wir prosten uns zu, dann blättert er eine neue Seite auf und legt das Buch vor mich hin. »Das hier sind Skizzen für Aliens III«, erklärt er. Ich horche überrascht auf. Dass ein dritter Teil entstehen soll, ist mir neu, und ich hake natürlich nach. »Ja, der soll jetzt gedreht werden«, erzählt er und kratzt mit dem Fingernagel auf der Ölkreidezeichnung herum. »Aliens II hat mir überhaupt nicht gefallen, das war ein richtiger Kriegsfilm. Soviel Schießerei und … keinen Franken hab’ ich daran verdient, obwohl man meine ganzen Designs vom ersten Film wiederverwendet hat. Ich wurde überhaupt nicht gefragt. Aliens III soll dafür jetzt etwas ganz Tolles werden. Was genau, weiß ich auch nicht, da ich selber noch kein Drehbuch geschickt bekommen habe. Die halten alles furchtbar geheim.« Er denkt kurz nach. »Auf der Erde soll es teilweise auch spielen«, fährt er fort. »Und das Alien soll sich in lauter verschiedene Gestalten verwandeln können, in so einer Art ständiger Metamorphose.« Ich betrachte die Zeichnungen, während Giger mir seine Ideen dazu erläutert. Alienschädel dominieren in den Bildern, gehen Symbiosen ein mit Hörnern, dolchartigen Auswüchsen und insektenhaften Körperfragmenten. Eine Skizze erinnert an einen Triebwagen, der durch eine Unzahl dornenartiger Rudimente angetrieben wird. Seine Front wird geprägt von einem länglichen Schädel mit aufgerissenem Maul, aus dem eine bajonettähnliche Zunge herausragt. »Nächste Woche erfahre ich, ob ich bei dem Film mitmachen werde oder nicht«, verrät er.

Mit H.R. Giger vor dem Wand-Triptychon »The Spell IV«
Mit H.R. Giger vor dem Wand-Triptychon »The Spell IV«

Irgendwo im Haus klingelt das Telefon, und als der Maler den Raum verlassen hat, habe ich Gelegenheit, meinen Blick durch das Zimmer schweifen zu lassen. Hinter meinem Rücken erstreckt sich zweieinhalb Meter hoch und über vier Meter breit das Bild »The Spell IV«. Das, was ich als stark verkleinerten Kunstdruck aus Gigers Necronomicon kenne, wirkt im Original gigantisch und überwältigend. Ein Meisterwerk. Drei der vier Wohnzimmerwände werden von diesen übermannsgroßen, wie Stellwände wirkenden Airbrush-Zeichnungen der Spell-Reihe eingenommen. Es sind Fenster in eine Dimension, deren architektonische Fundamente nur aus Knochen, toten Augen, Frauenkörpern, degenerierten Säuglingsköpfen und ästhetischer Verwesung zu bestehen scheinen. Ich betrachte fasziniert den Schrumpfkopf, der einen halben Meter vor mir in einem fünfeckigen Glasbehälter auf dem Marmorpentagramm des Wohnzimmertisches steht. Er sieht eigentlich nicht besonders schlimm aus – ein bisschen grün im Gesicht höchstens. Verschiedenste Schädel zieren das Zimmer, und im Hintergrund, halb im Dämmerlicht versteckt, schreien und klagen die Gesichter einer Embryolandschaft von der Leinwand. Giger kommt zurück und bietet mir an, mich durch die Wohnung zu führen.

Holzgeschnitzte Dämonenfiguren, Totems, Fetische und mit Bildern überfrachtete Wände dominieren in der gesamten Behausung. Rechts ein Originalmodell des Face-Huggers aus Alien I.
Holzgeschnitzte Dämonenfiguren, Totems, Fetische und mit Bildern überfrachtete Wände dominieren in der gesamten Behausung. Rechts ein Originalmodell des Face-Huggers aus Alien I.

Zuerst zeigt er mir sein Atelier. Dort steht auf einer Staffelei das fast fertige Bild für das Steve Stevens-Plattencover: Ein Gesicht, zur Hälfte von einem Gitarrenhals verdeckt, der von einer der typischen spinnenartig schlanken Gigerhände umklammert wird. Giger erklärt, was ihm an dem Motiv noch nicht gefällt und geändert werden muss. Immer wieder tauchen in seinen Werken Blitze, geisterhaftes Leuchten und Splitterbomben auf. Der Künstler zeigt mir weitere noch unvollendete Bilder, die im Atelier verteilt an den Wänden lehnen. »Hier habe ich zum ersten Mal Gelb verwendet«, verkündet er stolz und zeigt mir ein Bild, das ich lediglich als fahrige Skizze auf dem Backcover seines neuen Kataloges kenne. Es zeigt eine Art schreienden, sich wie in Agonie windenden Teufel aus lederner Haut und Knochen, dessen wirbelartiger Schwanz in ein Gitter eingeklemmt ist – schwefelgelbe und rote Flammen speiend wie eine wütende Fackel. An einer anderen Wand stehen zwei weitere Bilder der Serie »Pumpexcursion«. Nicht mehr in den dezenten Airbrush-Tönen, sondern ebenfalls in Orange, Rot, Braun und fahlem Weißgelb gezeichnet. »Da habe ich mit einem Relief-Effekt gearbeitet«, sagt Giger und deutet auf die Bilder. »Indem ich Spachtelmasse durch die Metall-Stanzformen, die ich sonst beim Airbrush-Zeichnen benutze, durchgepresst und übermalt habe. Das war eine Sau-Arbeit, ehrlich!«

Work in progress: Das Covermotiv für Steve Stevens Album Atomic Playboys
Work in progress: Das Covermotiv für Steve Stevens Album »Atomic Playboys«

Work in progress: Pumpexcursion III
Work in progress: Pumpexcursion III

Auf dem Balkon blicken wir hinab in den verwilderten Garten. »Im Sommer ist es hier herrlich«, erzählt Giger. »Da ist das alles grün und zugewachsen, und man ist ungestört. Ich kann dann hier draußen malen, ohne dass jemand hereinschauen kann. Das Grundstück dort vorne« – er deutet geradeaus – »gehört einer älteren Dame, die mir meine angrenzenden Büsche und Bäume stutzen wollte. Ich hab sie dann mal gemalt, dadurch hab ich die Situation zum Glück gerettet. Seitdem habe ich meine Ruhe«, grinst Giger (vergl. Werk Nr. 560). Wieder in der Wohnung, stehe ich vor dem monströsen Alien-Polyestermodell. Auch der originale Kopf des Filmmonsters liegt auf dem Boden. Im Hintergrund steht Gigers »Gebärmaschine«. Der Künstler zeigt mir Zeichnungen aus seiner Anfangszeit; abstrakte Tuschewirbel und Ölbilder. »Ich kaufe auch viele Bilder von anderen Malern«, sagt er und umrundet seine Badewanne, die mitten im Zimmer steht. Seine Badezimmerphobie hatte er bereits in Necronomicon I veranschaulicht.

Vorsicht ist geboten. Der Originalstuhl war wackeliger und empfindlicher, als er aussieht. Eben einfach nur fragile Filmdeko – und daher ziemlich hohl.
Vorsicht ist geboten. Der Originalstuhl war wackeliger und empfindlicher, als er aussieht. Eben einfach nur fragile Filmdeko – und daher ziemlich hohl.

Die mächtigen Harkonnen-Stühle, ursprünglich für den Film Dune bestimmt, stehen in der hinteren Hälfte des darauffolgenden Zimmers. Sie sind verstaubt, wie viele Dinge des Interieurs. Etwas verwahrlost sieht es überall in der Wohnung aus. »Heute ist es noch sauber«, meint Giger, als ich ihn darauf anspreche. »Sonst liegt hier knöcheltief Papier.« Unten im Garten steht, inmitten reliefverzierter Steinplatten, einem Wächter gleich ein Totem mit dem Gesicht in Richtung Wohnung, als bewache er das Haus vor jenen Dingen, die man sonst nur träumt.

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Wir sitzen wieder im Tempelzimmer. Giger zittert auffällig stark, wühlt ziellos in Bleistiften und Krimskrams und kratzt kleine Farbpunkte vom schwarzen Lack des Tisches. »Wenn The Tourist damals gedreht worden wäre, bei dem ich mitgemacht hätte, das wäre ein toller Film geworden«, erzählt er, während er die Plastikfolie von einem dicken Filzstift zieht. »Der Film The Minor von William Malone, der meine Bilderwelt auf die Leinwand bringen sollte, ist momentan auch auf Eis gelegt.«

Giger steht wieder auf, als halte es ihn keine zwei Minuten auf demselben Platz. Aus einem Regal holt er ein Plattencover, einen prall gefüllten Ordner und ein japanisches Magazin, das er mir als erstes vorlegt. »Kann ich nicht lesen«, erkläre ich irritiert. »Ich auch nicht«, gesteht Giger und blättert fahrig darin herum. Dann scheint er die richtige Seite gefunden zu haben. Sie zeigt Fotos von der kürzlich in Tokio fertiggestellten Giger-Bar. »Ganz fürchterlich!«, ärgert er sich. »Ich war selber noch nicht dort, aber nichts ist so, wie ich es mir gewünscht, vorgestellt und entworfen habe. Schrecklich kitschig! Na ja, die Japaner sind halt eigen.«

Astronaut, Android, Wächter? Im Wohnzimmer sitzt diese Plastik eines Biomechanoiden als Obsthalter. Das Gesicht bildet eine antike Kamera.
Astronaut, Android, Wächter? Im Wohnzimmer sitzt diese Plastik eines Biomechanoiden als Obsthalter. Das Gesicht bildet eine antike Kamera.

Wir blättern in dem Ordner herum, in dem der Künstler sämtliche Artikel über sich gesammelt hat. »Früher, als ich angefangen habe zu malen und die Leute sich langsam für mich interessierten, da ging ich immer schon zeitig zu meiner Mutter und hab sie vorgewarnt: „Du, morgen kommt wieder etwas im Blick.“ Dann, als ich nur noch mit Airbrush gezeichnet habe, haben sich die Leute an den Kopf gelangt.« Lachend erzählt er: »Ein namhafter Kritiker sagte damals zu mir: Was tust du mir da an, so ein überladener Kitsch!« In der Küche miaut eine Katze. Das veranlasst Giger, erneut das Zimmer zu verlassen, doch schon beim Zurückkommen beginnt er über das Pankow-Plattencover in meinen Händen herzuziehen: »Widerlich, wie die das gedruckt haben.« Er zeigt mir das Original, eines seiner Biomechanoiden-Motive. »So müsste es aussehen! Aber das hier … so widerlich braun – wie Scheiße!« Er steckt die Platte zurück in den Schrank. Wir leeren die Weinflasche und unterhalten uns dabei noch ein wenig über Bilder, Filme und Kunst. »Mit dem Ridley Scott würde ich gerne wieder zusammenarbeiten. Das ist ein guter Regisseur. Mir hat die Arbeit mit ihm damals bei Alien sehr gefallen. Er bringt eine außergewöhnliche Atmosphäre in seine Filme.« Schweiß glänzt auf Gigers Stirn. Auf die Frage, wie lange er für seine Bilder benötige, befällt ihn Schwermut. »Lange«, antwortet er nach einer Weile. »Ich habe schon lange kein Bild mehr fertig gezeichnet. Irgendetwas gefällt mir nicht daran, und ich stelle es weg, um ein neues anzufangen, mit dem Gedanken, das andere irgendwann fertig zu malen. Ich habe in letzter Zeit Probleme mit meinen Augen und zeichne viel im Bett mit Ölkreide. Das Umsetzten fällt mir schwer, aber wenn du etwas herausforderst, dann entsteht das auch – wie von selber.« Er schweigt einen Augenblick lang. »In der letzten Zeit beschäftige ich mich sehr mit dem Tod«, fährt er fort »Ich glaube, das ist eine Art Vorhersehung. Alles hängt miteinander zusammen, denn ich glaube nicht an den Zufall. Ich zeichne sehr viele von diesen langen Köpfen …«

Gigers ebenso phlegmatische wie fotogene Katze Mucki
Gigers ebenso phlegmatische wie fotogene Katze Mucki

Wieder herrscht Ruhe im Zimmer, lediglich die Siamkatze schnurrt zu meinen Füßen. Giger blickt auf die Uhr. »Jetzt darf ich die nächsten vier Stunden wieder nur Englisch reden«, wechselt er das Thema. Die sanfte Aufforderung, dass es für mich langsam Zeit ist zu gehen, überhöre ich nicht. Wir wechseln im Flur noch ein paar lockere Worte über die Unfähigkeit des Verlages, Gigers großformatige Bildbände bruchsicher zu binden, dann verlasse ich seinen biomechanischen Traumtempel durch das klinkenbetriebene Dimensionstor namens Haustür und finde mich in der Außenwelt wieder.

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Nur etwas mehr als eine Stunde ist in der realen Welt vergangen, seit ich die Schwelle zu dieser nocturnen Behausung überschritten hatte. Nun, was bleibt zu sagen? Es war faszinierend? Es war beängstigend? Es war – inspirierend? Ich möchte diesen Bericht nicht mit meinen eigenen Worten schließen, sondern mit denen eines Mannes, der vor gut sechzig Jahren einen ähnlich exzentrischen, wenn auch nicht ganz so berühmten Maler so beschrieb, wie ich es an dieser Stelle wohl nicht treffender fertigzubringen vermag:

»Hier war kein Künstler am Werk gewesen, der das von ihm Gesehene in ihm gemäße Formen übertragen hatte; es war ein schieres Pandämonium, objektiv klar wie Kristall. Bei Gott, das war es! Dieser Mann war weder ein Phantast noch ein Romantiker – er versuchte keineswegs, uns die schäumenden, prismatischen Ephemera des Traums zu oktroyieren, nein, er schilderte mit eiskalter Überlegung eine wohl fundierte Welt des Horrors, die er ohne Beschönigungsversuche oder barmherzige Abstriche in klaren Formen ausdrückte. Weiß der Teufel, wo diese Welt gelegen oder wo er diese heillosen, verdammten Wesen, die da schlurften, hopsten, madenhaft krochen, erschaut haben mag! Eine Tatsache war jedenfalls evident: Er war – gemessen an Beobachtung und Ausführung – in jeder Beziehung ein durch und durch genauer, ja fast wissenschaftlich vorgehender Realist.«
aus Pickmanns Modell von H.P. Lovecraft

H.R.Giger und mein damaliger Studienkollege Marc Breuninger, der einigen unter dem Pseudonym Agus Chuadar bekannt sein dürfte. Mit ihm als Co-Autor entstanden u.a. „Der Weg der Engel“ und ein paar weitere komische Sachen. Marc war nur beim zweiten Besuch (der Fotosession) mit von der Partie, die einige Wochen nach dem Interview stattfand.
H.R.Giger und mein damaliger Studienkollege Marc Breuninger, der einigen unter dem Pseudonym Agus Chuadar bekannt sein dürfte. Mit ihm als Co-Autor entstanden u.a. „Der Weg der Engel“ und ein paar weitere komische Sachen. Marc war nur beim zweiten Besuch (der Fotosession) mit von der Partie, die einige Wochen nach dem Interview stattfand.



© 1989/2014 by Michael Marrak