Andreas Gruber – Einundvierzig Grad nördliche Breite

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Die Mitglieder des Teams standen an der Reling und starrten aufs offene Meer. Vor einer Stunde hatte sich der Nebel verdichtet und die Sicht auf wenige Meter verringert. Sturmböen zogen auf. Commander Conklin zog seine Uhr an einer silbernen Kette aus der Manteltasche und ließ den mit einer Friedenstaube verzierten Deckel aufspringen. Im Schein der spärlichen Beleuchtung des Promenadendecks las er die Uhrzeit ab. Er sog die Luft geräuschvoll ein und ließ die angespannten Schultern sinken. Ein Nebelhorn tönte in der Ferne. Er blickte zu der Frau und den beiden Männern, die um ihn standen. Es waren junge Leute, in ihren schweren Mänteln und dem festen Schuhwerk wirkten sie harmlos. Er selbst hatte sie ausgewählt.
„Rickman, es ist 21.30 Uhr.“ Conklins Atem wurde in der Kälte sichtbar und hüllte ihn für einen Moment ein. „Sie übernehmen jetzt.“
Der als Rickman angesprochene Hüne nickte und griff in die Tasche. Während er sich einen kleinen, metallenen Gegenstand in das Ohr steckte, ging er in Richtung Funkerkabine davon. Nach wenigen Schritten verschluckte ihn der Nebel.
„Rickman, hören Sie mich?“ Conklin starrte aufs Meer und sog die salzige Luft des Atlantiks ein. Sein Blick wanderte die Backbordwand des Schiffes entlang, wo die stampfenden Turbinen das Meerwasser aufwühlten.
„Laut und deutlich, Sir!“, klang die verzerrte Antwort in Conklins Ohr.
Der Commander nickte. „Beeilen Sie sich.“ Er wandte sich den beiden anderen Teammitgliedern zu, welche die Kragen hochgeschlagen hatten und die Hände tief in den Manteltaschen vergruben.
Er musterte die hochgewachsene Frau. „Leena, Sie gehen zum Steuermaat. Sie treten um 23.30 Uhr in Aktion – falls Rickman scheitert.“ Er wandte sich an den Mann. „Baldwin, Sie sind um 23.38 Uhr im Maschinenraum. Sie wissen, was zu tun ist! Gott stehe uns bei, daß es nicht soweit zu kommen braucht.“
Die beiden nickten.
„Und Sie, Sir?“, fragte Baldwin.
Der Commander schnalzte mit der Zunge. „Falls unsere Informationen stimmen, trinkt Major Archibald Butt gerade einen Whisky im Salon. Es ist an der Zeit, daß er uns kennen lernt.“
„Lassen Sie ihn nicht aus den Augen, Sir“, sagte Leena.
„Es wird nichts schief gehen.“ Conklin lächelte und wandte sich ab.
Leena und Baldwin steckten sich die Mikroprozessoren ins Ohr und verließen die Backbordreling in verschiedene Richtungen.

Die Titanic setzte ihre Transatlantik-Überquerung von Queenstown nach New York unaufhaltsam fort. Der über 46.000 Bruttoregistertonnen schwere Dampfer pflügte sich mit der enormen Leistung der neunundzwanzig Kessel durch das Eismeer. Die Gischt spritzte bei der 22-Knoten-Fahrt bis zum Mitteldeck empor. Immer dichter werdender Nebel umhüllte das Schiff in jener Nacht des 14. April 1912.

Der Salon der Ersten Klasse am A-Deck war zu dieser Stunde gut besucht. Die Passagiere hatten ihr Abendessen eingenommen, die Männer saßen Pfeife rauchend an den Tischen oder unterhielten sich an der Theke. Der Barmann schenkte Sherry und Brandy aus. Der Raum atmete Geschäftigkeit. Die Gespräche wurden von den Klängen des Grammophons und den Tabakwolken wie durch ein schweres Tuch gedämpft.
Was für ein Abend. Conklin glaubte ein Wanken zu spüren, er blickte auf. Die viktorianischen Luster zogen unter der Holzdecke stumm ihre Kreisbewegungen. Der Seegang hatte in den letzten Stunden zugenommen, die Beleuchtung flackerte, doch niemand schien deswegen beunruhigt. Conklin zog ein Etui aus der Tasche und klemmte sich die Nickelbrille auf die Nase. Zwar hingen nur gewöhnliche Gläser in der Fassung, doch würde die Brille das Bild des britischen Fabrikanten verstärken. Er stemmte die Faust in die Hüfte und bahnte sich einen Weg durch den Salon. Am Ende der Theke saß ein Mann, der in sein Glas starrte, es schwenkte und dabei der kreisenden Bewegung des Whiskys folgte.
„Guten Abend, Major Butt, was für ein Zufall, Sie hier so spät noch zu treffen“, rief Conklin und klopfte dem Mann wie einem alten Kameraden auf die Schulter. Er haßte die Rolle des aalglatten, großkotzigen Industriellen, aber nur so würde es wirken.
Das Geklimper der Eiswürfel verstummte. Butt sah auf. „Guten Abend, Sir.“ Er stellte den Scotch zur Seite. „Sollte ich Sie kennen?“
Conklin kannte das Bild des Militärs aus dem Dossier. Major Butt war tatsächlich ein eindrucksvoller Mann, der in seiner Uniform das Sinnbild der Autorität verkörperte. Er wog sicherlich soviel wie ein ausgewachsener Bulle, dementsprechend spannte sich ihm die Uniform über den Bauch. Mit den Koteletten, dem dichten Seehundbart und den buschigen Augenbrauen sah er aus, wie die Militärs jener Jahre eben aussahen.
„Gestatten Sie, mich vorzustellen, Major.“ Conklin nickte und nahm auf dem Barhocker neben Butt Platz. Mit einer energischen Handbewegung winkte er den Barmann zu sich. „Einen Whisky für den Major und mich.“
Der Barmann zog zwei Gläser aus dem Regal und verschwand hinter den Zapfhähnen.
„Ich trinke allein!“
Conklin ignorierte den Hinweis. „Mein Name ist Browning, Rupert Browning, von Browning Enterprises“, log er. „Wir stellen Raupenantriebe für Amphibienfahrzeuge her. Zwei Fabriken auf den Britischen Inseln. Nichts Außergewöhnliches, aber erst unlängst …“
„Wie bitte?“, unterbrach Butt. Er klemmte sich das Monokel ins Auge. Behäbig rutschte er auf dem Barhocker herum und musterte Conklin.
„Sagten Sie Raupenantriebe?“ Major Butts Gesicht wirkte zerfurcht und wettergegerbt. Mühelos hätte er in einem Filmspektakel die Rolle des Abenteurers übernehmen können.
„Raupenantriebe, ja.“ Conklin nickte. „Schlepper, Panzer und Gleiskettenfahrzeuge. Sagen Sie bloß, Sie kennen sich damit aus?“
„Guter Mann!“ Butt lachte auf.
Wie Conklin in der Empfehlung des Dossiers gelesen hatte, würde das Stichwort wirken. Conklin schmunzelte. Butt war ein Waffennarr, er hatte angebissen.
Als der Barmann zwei Whiskygläser auf den Tresen stellte, waren die beiden Männer in ein Gespräch vertieft.

Gedämpfte Schritte näherten sich über die mit Teppich ausgelegten Stufen. Die Tür schwang auf und ein junger Mann torkelte in den Gang. Hochgewachsen und kräftig, wie Rickman war, mußte er den Kopf einziehen, um sich nicht am Türstock zu stoßen. Er sah auf die Taschenuhr. Ihm blieben noch fünf Minuten. Er wußte, die Zeit würde reichen. In den Tagen zuvor hatte er den Weg mehrmals zurück gelegt. Er kannte jede Nische und Abzweigung.
Der Dielenboden knarrte. Rickman taumelte durch den Korridor am Brückendeck, mehrmals mußte er sich an der Steuerbordseite abstützen.
„Vorsicht! Das Schiff macht unruhige Fahrt.“ Der junge Steward schob sich grinsend mit einem Sektkübel an Rickman vorbei. „Champagner für die Erste Klasse.“ Wie zur Erklärung schüttelte er das Eis im Kübel.
Rickman schluckte seine Antwort hinunter und stolperte weiter durch den Gang. Selbst heute hatte er seine Kindheitsängste vor hohem Seegang nicht unter Kontrolle. Was für ein Wahnsinn, ausgerechnet ihn auf eine Mission wie diese zu schicken. Hätte das Kommando keinen Landeinsatz für ihn finden können? Auf Hawaii oder den Kanarischen Inseln, wo die Sonne zwischen den Palmen durchblinzelte und ihm der Wind den Sand in die Augen blies? Doch hier, inmitten des Eismeers, wurde ihm schon übel, wenn er ein Cocktailglas über die Holztheke des Salons rutschen sah. Conklin hatte ihn nicht einmal gefragt, ob er mit dem Ziel einverstanden war, sondern kommentarlos auf die Liste gesetzt. Dabei gab es genug andere Funkspezialisten und Elektrotechniker im Team.
Die Deckenbeleuchtung flackerte.
„Großartig!“ Rickman haßte es, wenn er den Vorgeschmack von Tragödien zu spüren bekam.
Er taumelte weiter. Um 21.40 Uhr stand er vor der Kabinentür des Marconiraums, wie die Funkräume damals noch hießen. Er wußte, jeden Augenblick würde ein Funkspruch von der Mesaba eintreffen. Diese Nachricht sollte den Ersten Offizier der Titanic vor starkem Packeis und den Eisbergen warnen. Zu dieser Stunde trieben die Teufel nur noch wenige Meilen vom Schiff entfernt. Niemand im Team kannte den Grund, weshalb der Funkspruch übersehen worden war. Er selbst würde das ändern.
Rickman klopfte an. Als keine Antwort zu hören war, drückte er die Klinke nieder und öffnete die Tür. Die spartanisch eingerichtete Kabine wurde durch den Schein einer Schreibtischlampe erhellt. Keiner der beiden Funker, weder Phillips noch Bride, saß an seinem Platz. Ansonsten fiel Rickman nichts Ungewöhnliches auf. Sein Blick schweifte durch den mit dunklem Holz verkleideten Raum. Er ging auf das Gerät am Ende des Zimmers zu. Der Funkspruch müßte jeden Augenblick eintreffen. Das Schiff schwankte, hinter ihm knarrte die Tür.
„Guten Abend Major …“, hörte er eine Stimme.
Trotzdem ging Rickman weiter. Er betrachtete das Funkgerät, ging in die Hocke und tastete über das Gehäuse.
„… was für ein Zufall, Sie hier so spät noch zu treffen.“
Rickman verfolgte mit seinem Chip Conklins Annäherungsversuch an Major Butt und wurde Zeuge, wie Conklin sein Opfer im Salon raffiniert an Land zog. „Raupenantriebe“, murmelte Rickman. Er schmunzelte und schüttelte den Kopf.
Plötzlich erregte etwas anderes sein Interesse.
„Mist!“ Er starrte hinter das Funkgerät. Die Rückwand fehlte. Bunte Kabel quollen aus dem Bauch des Geräts und baumelten über die Tischkante. Er betrachtete die Enden der Drähte. Sie waren mit einem Messer sauber durchtrennt worden. Hastig warf er einen Blick auf das Zifferblatt. 21.41 Uhr. Der Funkspruch der Mesaba war nie auf der Titanic eingetroffen. Hier war etwas faul. Conklin mußte davon erfahren. Als er sich umwandte, schwang die Tür auf. Aus dem Augenwinkel sah er einen Schatten auf sich zustürzen. Gleichzeitig hörte er das Spucken einer schallgedämpften Waffe.

Eine Stunde vor Mitternacht schlenderte Baldwin über das Promenadendeck. Eisiger Wind herrschte zu dieser Jahreszeit am 41. Breitengrad. Ihn fröstelte. Für seine Verhältnisse war er schon zu lange neben dem Bett auf und abgegangen. Wie immer, wenn er auf einen Einsatz wartete, zermürbte ihn die Untätigkeit. Dann hatte er endgültig nach der 38-kalibrigen Remington gegriffen, sich die Waffe ins Schulterholster gesteckt, den Mantel übergezogen und die Kabine verlassen.
Ihm blieb noch weit mehr als eine halbe Stunde Zeit, bis er in den Maschinenraum steigen sollte. Als Maschinist war er mit der Technik der frühen 20er Jahre vertraut. Die Maschinenanlage der Titanic war zwar simpel, für diese Zeit aber erstaunlich robust. Mit neunundzwanzig Kessel schaffte der Dampfer eine Leistung von 46.000 PS. Es waren nur einige Handgriffe nötig, die Turbinen anzuhalten und die Maschinen volle Kraft zurückfahren zu lassen. Aber soweit würde es nicht kommen, davon war er überzeugt. Rickman und Leena waren auf ihren Posten; sie würden das Ding schon schaukeln. Er selbst war nur zur Sicherheit im Team, falls der gute, alte Conklin recht behalten und alles schief gehen sollte. Eigentlich könnte er jetzt gleich die Turbinen anhalten, dann würde der Eisberg an ihnen vorüber schippern. Doch Conklin hatte davor gewarnt, mit der Brechstange vorzugehen. Ihre Anweisungen lauteten, so gering wie möglich in das Geschehen einzugreifen. Und so gering wie möglich, bedeutete für Baldwin, daß gar nichts passierte – mit der Ausnahme, daß er sich den Arsch abfror.
Bis er auf seinen Posten mußte, würde er frische Nachtluft schnuppern. Ein Besuch im Salon kam für ihn nicht in Frage. Bei dieser Mission war er sogar ohne Flachmann ausgerückt. Der lag zu Hause, steckte in der Brusttasche irgendeines Anzugs. Er hatte zwar nie mit Conklin darüber gesprochen, doch ahnte er, daß der Alte für ihn absichtlich eine Kabine ohne Barschrank gebucht hatte. Wie auch immer, er mußte in dieser Nacht sowieso einen klaren Kopf behalten; außerdem würde er sich nach jenem Auftrag oft genug in Bars vollaufen lassen können. Dann hatte er ja genug Geld, und wenn alles klappte, war es sein letzter Einsatz.
Baldwin spähte durch den Nebel. Nicht mehr lange, dachte er. Wie er wußte, wurde Edward J. Smith auf Grund des dichten Nebels ziemlich nervös. Er wollte nicht in der Haut des Kapitäns stecken. Armer Kerl!
Minuten später beobachtete Baldwin die ersten Ausguckmänner, die eingehüllt in Öljacken, zu den Krähennestern emporstiegen. Ihre Flüche wurden vom Nebel geschluckt. Steigt nur rauf! Ihr werdet den Eisberg doch nicht rechtzeitig bemerken! Arme Schweine! Sein Blick fiel auf die unter den Planen festgezurrten Boote.
„Idioten!“ Er schüttelte den Kopf. Was für ein Wahnsinn! Sechzehn Rettungsboote und vier ausklappbare Notboote waren alles, worüber das Schiff verfügte. Damit gab es gerade mal Rettungsplätze für die Hälfte der Passagiere – die andere Hälfte mußte schwimmen. Er spuckte ins Wasser. Solange sie eben dort unten schwimmen konnten, bevor ihnen Arme und Beine einfroren.
Baldwin ließ das Rettungsboot hinter sich und bemerkte eine Familie, die an der Reling stand und dem Pochen der Turbinen und dem Schlagen der Wellen lauschte.
„Guten Abend, Sir.“ Ein rothaariges Mädchen mit Dubliner Akzent lugte hinter dem Wollrock seiner Mutter hervor.
„Guten Abend, junge Dame.“ Baldwin zwinkerte der irischen Familie zu. Das Mädchen gluckste, die Eltern nickten stumm. Der Mann war einen Kopf kleiner als Baldwin. Er wirkte drahtig, hatte scharfe Augen und ein kantiges Gesicht. Wahrscheinlich war er Fabrikarbeiter oder schuftete in Kohleminen. Seine Frau war hübsch. Er ließ den Blick über die zerschlissenen Mäntel und das brüchige Schuhwerk der beiden wandern. Ihre Gesichter waren von der Salzluft aufgerauht. Vielleicht wanderten sie, wie viele andere an Bord, mit ihrer gesamten Habe nach New York aus. Sollte er ihnen sagen, daß es in den Staaten nicht besser war? Aber wozu? Das Geld für die Rückreise nach Europa würden sie wohl kaum haben.
Baldwin stemmte sich mit dem Bein gegen die Reling und starrte ins Wasser. Er hörte die Gischt und sah das Schäumen der Wellen. Er steckte sich eine Zigarette an, zog lustlos daran und schnippte den Glimmstengel ins Wasser.
Der Ire ließ die Reling los, seine Frau hakte sich bei ihm unter. Wortlos gingen sie an Baldwin vorüber.
„Fährst du nach Amerika?“, fragte ihn das Mädchen.
„Natürlich, du etwa nicht?“
Die Kleine hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte.
„Auf Wiedersehen“, grüßte das Mädchen.
„Bis später, Kleine.“ Baldwin lächelte ihr zu. Sie winkte und hopste ihren Eltern hinterher. Würde sie zu den Überlebenden zählen? Würde sie im Eismeer ertrinken? An Bord befanden sich 2.224 Passagiere, ganz zu schweigen von der Besatzung. Baldwin haßte diese Untätigkeit. Ihn fror, er verbarg seine Hände in den Manteltaschen. Wieder spuckte er ins Wasser. Ein Schluck Whisky würde ihn jetzt wärmen. Er versuchte sich abzulenken und dachte an Leena. Als die Familie im Nebel verschwunden war, nahm er Kontakt mit ihr auf.
„Wo bist du?“, fragte sie.
„Promenadendeck, Steuerbord. Lauer Wind, sternenklare Nacht.“
„Scherz!“
„Die Band spielt Moonlight Serenade. Kommst du rauf?“
„Du hängst sicher im Salon herum und läßt dich vollaufen?“
„Ich bin trocken!“
„Seit wann?“
„Seit drei Tagen“, brummte er.
„Gratuliere! Der Gedanke, daß ausgerechnet du unser Mann im Maschinenraum bist, beruhigt mich ungemein!“
„Paß bloß auf, daß du deinen eigenen Einsatz nicht vermasselst.“
Im Geiste sah er Leena, wie sie ihm den Mittelfinger ausstreckte. Sie war die einzige Frau im Team und mit Sicherheit das einzige emanzipierte Weibsbild an Bord des Schiffs. Obwohl sie diesmal kein Make-Up trug, sich ihr Haar verdammt kurz hatte schneiden lassen, in einem Rollkragenpullover und einem schmierigen Mantel steckte, sah sie höllisch gut aus. Grundsätzlich war das Kommando gegen weibliche Agenten, doch Conklins Bedingung hatte gelautet, daß er nur den Einsatz leitete, wenn Leena dabei war. Ihm konnte es recht sein. Er stand sowieso nicht auf die piekfeinen Ladies der 20er. Außerdem hatte sich die Kleine bewährt, wie er von früheren Missionen wußte. Beinahe war er neidisch auf ihre abgebrühte Art.
Baldwin justierte den Mikroprozessor, es knackte in seinem Ohr. „Wenn du noch länger mit mir flirtest, versäumst du dein Date mit dem Ersten Steuermaat.“
„Ich flirte nicht mit dir!“, antwortete Leena knapp.
„Oh, oh, oh!“
„Außerdem ist mein Rendezvous erst um 23.30 Uhr. Zeit genug also, um mich von dir langweilen zu lassen.“
Baldwin schnalzte mit der Zunge. „Ich habe gehört der Maat ist ein Errol Flynn-Typ.“ Er grinste. „Ein Sexprotz, der die Witwen an Bord der Reihe nach in seiner Kabine…“
„Da bist du falsch informiert. Er ist klein, fett und häßlich … so wie du!“
„Danke.“ Baldwin verzog das Gesicht.
„Außerdem ist er schwul. Aber er hat mir gesagt, daß er auf dich steht!“
„Witzig!“ Baldwin spuckte ins Wasser. „Hast du was von Rickman gehört?“
„Nein.“
Blöde Frage! Wahrscheinlich hatte sich Rickman den Mikroprozessor aus dem Ohr genommen, stand in der Kabine des Kapitäns und wedelte ihm mit dem Funkspruch der Mesaba vor der Nase herum. Was auch immer er trieb, zumindest sollte er sich bald melden, die Zeit wurde knapp. Baldwin hauchte in die erkaltete Faust. Vielleicht kam er doch noch dazu, an den Turbinen zu spielen.

„Eine halbe Stunde vor Mitternacht.“ Conklin leerte das dritte Glas Whisky und erhob sich schwerfällig vom Barhocker. „Wie wäre es mit einem Spaziergang an Deck, Major?“
„Ausgezeichnete Idee, Mister Browning.“ Mit einer eckigen Bewegung straffte der Major den Saum der Uniform. „Die frische Seeluft wird uns alten Haudegen gut tun.“
„Gewiß.“ Conklin lächelte.
Major Butt klopfte ihm auf die Schulter. Seine Hände waren so groß wie Teller, Conklin ließ es über sich ergehen.
Er reichte dem Major bis zum Kinn. Neben dem Koloß wirkte er bestimmt wie eine schmächtige Figur. Dennoch würde er den Major dorthin bringen, wo er ihn haben wollte – und wenn es das Letzte war, was er in diesem Leben tat.
Conklin ging voraus, der Militär begleitete ihn durch den Salon. Die meisten Stühle standen bereits verkehrt auf den Tischen, der Barmann wischte mit einem Mopp über die Dielen. An einigen Tischen saßen die üblichen Stammgäste, wie man sie in jeder Schiffsbar antraf. Mit einer halbvollen Flasche bereiteten sie sich auf eine unruhige Nacht vor. Baldwin war nicht unter ihnen, stellte Conklin fest.
Er stieß die Tür auf, beißende Kälte schlug ihm entgegen. Der matte Schein einer Nebellampe beleuchtete das Promenadendeck. Major Butt trottete neben ihm an der Reling entlang. Würde der Major die ungewöhnliche Ruhe bemerken? Oder kam es nur ihm so vor? Die Ruhe vor dem Sturm, dachte Conklin und steckte sich eine Zigarette an. Gierig zog er an der ihm unbekannten Marke aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Eine dunkelblaue Rauchwolke trieb mit der Atlantikbrise davon. Seine Hände zitterten. Rasch ließ er sie in den Manteltaschen verschwinden.
„Wußten Sie eigentlich, daß wir damals, in Boston, während der Ausbildung, einen Kerl in der Kaserne hatten, der konnte einem Schwein mit bloßen Händen den Hals umdrehen?“
Conklin zog die Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Major Butt war ein dankbarer Gesprächspartner. Er langweilte ihn mit Geschichten aus seiner Jugend. Conklin brauchte nur zu nicken und gelegentlich einen Kommentar abzugeben. Der Major erinnerte ihn an seinen Vater, der stundenlang reden konnte, ohne Luft zu holen. Solche Menschen waren ihm ein Greuel. Manchmal hatte ihn sein Vater mit dem Gequassel bis aufs Blut geärgert und war ihm solange auf die Nerven gegangen, bis die Monologe im Streit endeten. Sogar am Sterbebett ließ er niemand anderen zu Wort kommen. Wehmütig dachte Conklin an seinen alten Herrn. Bis heute konnte er es sich nicht verzeihen, dass er bis zuletzt keinen Frieden mit ihm hatte schließen können. Übernahm er deshalb diese waghalsigen Aufträge? Wollte er damit sein Gewissen bereinigen, seine Schuld wieder gut machen?
Der Chip knackte in Conklins Ohr. „Commander, ich bin auf Position.“ Es war Leenas Stimme, sie klang eine Spur zu hastig. „Ich höre den Ersten Steuermaat, er ist in seiner Kabine. Ich stehe am Korridor, ich betrete das Zimmer. Ist unsere Zielperson wohl auf, Sir?“
„Ja, Sir“, antwortete Conklin. Leena würde ahnen, daß er sie meinte.
Major Butt nickte zustimmend. Dann fuhr er mit seiner bildreichen Schilderung über jene Zeit fort, als Roosevelt noch Polizeichef von New York war. Conklin nickte.
„Ich bin im Maschinenraum“, schaltete sich Baldwin in den Kontakt ein. „Hat sich Rickman bei Ihnen gemeldet, Sir? Von ihm fehlt jede Spur.“
„Das habe ich befürchtet“, murmelte Conklin und ließ den Deckel der Taschenuhr aufspringen. Major Butt hielt inne und starrte seinen Gefährten an.
„Kommen Sie! Das haben Sie geahnt?“ Er schüttelte den Kopf. „Und ich dachte, Präsident Tafts und Teddy Roosevelts Engagement in dieser Sache – ganz zu schweigen von meiner Funktion selbstverständlich – hätte sich noch nicht bis nach Europa durchgesprochen.“
Conklins Gesichtszüge erstarrten. Er stand an der Reling und blickte zum Krähennest hinauf. Sein Puls beschleunigte. Er hörte Leenas aussichtslose Diskussion mit dem Ersten Steuermaat. Er mußte überzeugt werden, das Ruder hart Backbord zu steuern. Conklin war klar, daß der Mann nicht gewöhnt war, Befehle von einer Frau entgegen zu nehmen – und schon gar nicht, wenn sie nicht zur Besatzung gehörte. Wenn nötig, sollte Leena die Waffe ziehen – so lautete ihr Auftrag. War es ein Fehler, diesen Job ihr zu geben? Worauf wartete sie?
„Warum blicken Sie andauernd auf die Uhr, Mister Browning?“ Der Major sah ebenfalls zum Krähennest hinauf, das sich zwischen den vorbeiziehenden Nebelschwaden aus der Dunkelheit schälte.
Conklin blickte zu Butt und starrte wieder auf das Zifferblatt. 23.35 Uhr. Noch fünf Minuten. Tatenlos hörte er zu, wie Leena Sekunde um Sekunden mit sinnlosem Gerede verschwendete. Sinnloses Gerede – wie das seines Vaters. Conklins Finger trommelten am Geländer der Reling. Er ballte die Hand zur Faust, sein Blick raste zwischen dem Zifferblatt der Uhr und der Nebelwand hin und her. Er kniff die Augen zusammen, spähte in die Dunkelheit. Schon bald würde er das Knacken des verdammten Eisbergs hören.
„Leena, es reicht!“, brüllte Conklin. Er packte das Geländer der Reling, seine Knöchel traten weiß hervor. „Sie schießen ihm ins Bein und reißen das Ruder nach Backbord! Jetzt! In wenigen Minuten rammen wir den Eisberg!“
Major Butts Kopf fuhr herum. Er starrte den britischen Industriellen mit aufgerissenen Auge an. Der Seehundbart zuckte auf und nieder, auf der Oberlippe hatten sich Eiszapfen gebildet.
„Was meinten Sie eben?“ Der Major blickte sich auf dem leeren Promenadendeck um, wie ein Statist in einer billigen Theateraufführung.
„Commander Conklin, ich …“, drang Baldwins Stimme aus dem Chip. Conklin zuckte zusammen. Im selben Moment krachte ein Schuß im Mikrochip. Conklin hoffte, daß es Leenas Beretta war und keine andere Waffe.
„Commander Conklin!“, keuchte Leena. „Der Maat ist verletzt. Ich habe die Situation unter Kontrolle – die Titanic macht harte Fahrt Backbord.“
„Was sollte das eben bedeuten?“, rief Major Butt erneut. „Welcher Eisberg?“
Conklin ignorierte ihn. Seine Hand hob sich, als wollte er seinen Begleiter beruhigen. „Gleich, Major.“ Sein Blick verlor sich im dichten Nebel.
„Commander Conklin“, drängte Baldwin. „Ich bin im Maschinenraum. Ihre Anweisungen?“
Conklins Blick klebte am Zifferblatt der Taschenuhr. Ihm stockte der Atem, als der Minutenzeiger einen Satz nach vor machte.
„Baldwin! Wir haben zu viel Zeit verloren.“ Conklin ließ die Uhr zuschnappen und in die Manteltasche verschwinden. „Sie halten alle Turbinen an und lassen die Maschinen volle Kraft zurückfahren.“
Er wandte sich dem Major zu, packte ihn an der Schulter und starrte ihn mit schmalen Augen an.
„Major!“ Er deutete hinaus aufs Meer. „Das ist die Ruhe vor dem Sturm. Gleich beginnt der Tanz!“
Conklin sah zum Krähennest, Butts Blick folgte ihm.
Stille!
Nur das Rauschen der Wellen und das Aufheulen der Turbinen waren zu hören.
23.40 Uhr!
„Eisberg! 500 Meter Steuerbord voraus!“, ertönte der Ruf von Frederick Fleet, dem dritten Ausguckmann.
Die Alarmglocke schrillte. Mit einem Mal riß die Nebelwand auf. Conklin wußte, der Eisberg würde über achtzehn Meter aus dem Meer ragen. Doch es sah aus, als raste eine gigantische, weiße Wand mit atemberaubender Geschwindigkeit auf sie zu. Major Butt hielt den Atem an und starrte mit offenem Mund auf die zerklüfteten Eistrümmer. Conklin erging es nicht anders. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß ihn der Anblick derart in den Bann ziehen würde. Fasziniert betrachtete er den Koloß aus hartem Eis. Das Monstrum tauchte viel zu schnell aus den milchigen Schwaden auf und hielt auf die Reling zu. Viel zu schnell! Nur siebenunddreißig Sekunden würden seit der Meldung vom Krähennest bis zum Auftreffen des Eisberges auf den Schiffsbug vergehen. Siebenunddreißig Sekunden Reaktionszeit, die für über 1.500 Menschen den Tod bedeutete. Conklin zählte die Sekunden. Die Kälte zerschnitt ihm das Gesicht. Seine Lungen erstarrten. Er war bei dreißig angelangt.
Kratzend schob sich der Berg an der Backbordseite des Schiffes vorbei. Metall knirschte, der Boden unter Conklin vibrierte. Er kniff die Augen zusammen, preßte die Zähne aufeinander. Jeden Augenblick würde der Bauch des Schiffes wie eine reife Melone platzen. Tonnen von Wasser würden binnen Sekunden den Schiffsrumpf fluten.
„Gott!“ Der Ruf des Majors wurde von der klirrenden Kälte, dem knirschenden Eis und dem Schrillen der Alarmglocke übertönt.
„Wir haben es gleich überstanden“, schrie Conklin gegen den Lärm des krachenden Eisbergs.
„Wer zum Teufel sind Sie?“, brüllte Butt. „Woher wußten Sie das?“
„Ha, ha!“ Conklin schleuderte die Arme hoch. Der Eisberg zog an ihnen vorüber, das Bersten des Schiffsrumpfes war ausgeblieben. Sie hatten es überstanden, sie waren gerettet. Von subtilem Eingriff konnte keine Rede sein, es war die gefürchtete Brechstangenmethode, die er vermeiden wollte. Doch verdammt, sie hatten es überstanden!
„Woher wußten Sie das?“ Der Major schüttelte ihn an der Schulter.
„Was spielt das für eine Rolle?“ Conklin warf den Kopf in den Nacken. „Wir haben die größte Schiffskatastrophe des Jahrhunderts überlebt.“
Während der gigantische, abertausend Tonnen schwere Eisberg genauso schnell im Nebel verschwand, wie er gekommen war, erschütterte eine Explosion das Schiff an der Steuerbordseite. Die beiden Männer taumelten gegen die Reling. Conklin riß es aus Butts Umklammerung.
„Baldwin! Was war das?“ Conklin rappelte sich auf. Er beugte sich über die Reling und starrte hinunter zum Schiffsrumpf.
„Dynamit! Eine Explosion im Vorderschiff. Vier Meter unter der Wasserlinie, Sir. Wir haben enormen Wassereinbruch“, kam Baldwins Stimme verzerrt über den Chip.
„Verdammt!“, rief Conklin. „Leena! Baldwin! Sie kommen auf das Promenadendeck. Sofort! Wir treffen uns in zehn Minuten beim Rettungsboot Nummer Sieben.“
„Mit wem zur Hölle reden Sie andauernd? Was war das eben?“ Der US-Major starrte ebenfalls über die Reling. Seine Stimme zitterte. Doch Conklin würdigte den Mann mit keinem Blick. Seine Gedanken rasten.
„Aber Sir, wir sollten doch …“, widersprach Baldwin.
„Die Aktion ist abgebrochen!“, bellte Conklin. „Mit Sicherheit ist ein zweites Team an Bord!“

Der Erste Offizier verschloß alle wasserdichten Schotten unter der Wasserlinie. Doch sowohl die ersten fünf Abteilungen als auch der Kesselraum wurden binnen Sekunden überflutet. Innerhalb der ersten zehn Minuten nach der Explosion stieg das Wasser im Vorderschiff vier Meter über Kiel.
Die Titanic funkte über das tragbare Ersatzfunkgerät Notruf. Während Leuchtraketen den Nachthimmel in gelbes und rotes Licht tauchten, teilte der Kapitän den Passagieren mit, daß das als unsinkbar geltende und zugleich größte Schiff der Welt sank. Es dauerte nicht lange, bis in Panik geratene Familien kopflos an Deck stürzten. Die Nacht wurde von Entsetzensschreien erfüllt. Der Besatzung erging es nicht anders. Der 269 Meter lange und 28 Meter breite Dampfer füllte sich über Mitternacht mit dem Wasser des Atlantiks, dessen Temperatur kaum über Null Grad lag. Innerhalb weniger Sekunden brach Hysterie unter den Passagieren aus, und das, obwohl die 2.200 Gäste glaubten, für jedes Mitglied an Bord der Titanic sei ein Rettungsplatz vorhanden.

Conklin packte den Major am Arm. Er zog ihn über das Deck, auf die andere Seite des Schiffs, zu dem Rettungsboot, das um 00.45 Uhr als erstes zu Wasser gelassen würde.
Neben ihnen wurden die Korridortüren aufgestoßen. Menschenmengen strömten an Deck. Frauen, nur mit Nachtmänteln bekleidet, in denen sie ihre aus dem Schlaf gerissenen Kinder eingewickelt hielten und Männer, die ihre Wertgegenstände hastig in Koffer und Taschen gefüllt hatten. Kinder schrieen, Tattergreise stolperten.
Conklin mischte sich mit dem Major unter die Menschen. Im Gedränge erkannte er Leena und Baldwin. Sie liefen ihnen entgegen.
„Was bedeutet das? Ein anderes Team ist an Bord! Welches andere Team?“, schnaufte Leena.
„Die Dame trägt eine Waffe!“, platzte es aus Major Butt hervor.
Leena hielt noch immer die schwere 9mm-Beretta mit zweireihigem Magazin in der Hand.
Ruckartig befreite sich Butt aus Conklins Griff. „Junge Dame, können Sie überhaupt damit umgehen?“ Fasziniert streckte er die Hand nach der Pistole aus.
Leena ignorierte ihn und wechselte die Waffe in die andere Hand. „Welches andere Team?“
„Ich weiß es nicht!“ Conklin griff unter die Weste und zog eine Walther P99 mit vernickeltem Schlitten aus dem Holster. „Aber eines ist sicher: Wir sind nicht allein an Bord!“
„Natürlich nicht“, entfuhr es dem Major. Er blickte sich um.
„Commander, wo ist Rickman?“, drängte Baldwin. Er zog die 38er Remington aus dem Holster. Der offene Mantel bauschte sich hinter seinem Rücken wie ein Segel auf.
„Was sind das für Dinger?“ Mit aufgerissenen Augen betrachtete Major Butt die Waffen der beiden Männer.
„Rickman ist tot!“, antwortete Conklin, ohne dem US-Major die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Gehetzt blickte er sich um. „Wer immer es war …“
„Ich kann nicht glauben, daß Sie das so einfach sagen“, fuhr Leena den Commander an. „Sie wußten davon!“
„Leena! Denken Sie an die Mission. Wir haben jetzt nur noch ein Ziel!“
Leena und Baldwin stellten sich mit entsicherten Waffen um Major Butt auf, als wollten sie ihn gegen einen unsichtbaren Feind schützen.
„Was zur Hölle ist hier eigentlich los?“, rief der Major erzürnt.
„Sie tragen einen zwölfschüssigen Regimentsrevolver“, stellte Conklin fest. „Sie werden ihn brauchen.“
„Woher zum Teufel wissen Sie das?“
„Das ist jetzt unwichtig.“
Major Butt tat es seinen selbsternannten Beschützern gleich und zog einen Revolver mit langem Lauf aus der Gürteltasche.
„Major …“ Conklin verstummte. Eine weitere Leuchtrakete zerplatzte am Himmel und tauchte das Deck in rotes Licht.
„Major, Sie reisen über New York nach Washington“, übertönte Conklin das Gebrüll der Menschen. „Sie sind der Militärberater von US-Präsident Taft und ein enger Freund von Theodore Roosevelt. Ihr Einfluß und Ihr strategisches Urteilsvermögen machen es möglich, daß die Vereinigten Staaten in den Weltkrieg eintreten und daß sich …“
„Von was verdammt noch mal reden Sie? Woher haben Sie diese Waffen, und was zur Hölle ist der Weltkrieg?“
„Leider werden Sie das noch früh genug herausfinden, Major“, kürzte Conklin die Erklärung ab. „Wichtig ist nur, daß Sie lebend von diesem Schiff kommen.“
„Lebend? Wo ist das Problem?“ Butt deutete auf die in Segeltuchplanen eingehüllten Boote. „Hier sind genügend Rettungsboote!“
„Nach unseren Aufzeichnungen werden nur siebenhundertvier Menschen diese Katastrophe überleben“, schaltete sich Baldwin in die Diskussion ein. Mittlerweile waren sie von brüllendem Schiffspersonal umgeben, das unkoordiniert die Planen von den Booten zerrte.
„Nach welchen verdammten Aufzeichnungen?“ Butt wurde von einem Trupp Männer beiseite gestoßen.
Conklin fing Butts voluminösen Körper mit scheinbarer Leichtigkeit auf. „Sir, wir haben keine Zeit für lange Erklärungen. Nur so viel: Wir kommen aus einer Zukunft, in der sich diese Ereignisse bereits zugetragen haben. Wir sind durch …“
„Sir, nicht!“ Baldwin ergriff Conklins Arm.
Er schüttelte ihn ab. „Durch ein Wunderwerk moderner Physik, einer sogenannten Quanten-Tachyonen-Maschine, durch ein Wurmloch in der Zeit zurückgereist.“
„Sie sind verrückt!“
„Um Ihnen das Leben zu retten!“, fügte Leena hinzu.
„Was soll diese verdammte Scheiße?“ Butts Kopf errötete vor Zorn. „Eine Frau soll mir das Leben retten? Sie und diese beiden Strolche brauchen mir nicht zu helfen, es sind genügend Rettungsboote auf dem Schiff … aber bevor ich in eines davon steige, hole ich meinen Koffer aus der Kabine.“ Butt riß sich los. Er ruderte mit den Armen und drängte sich in die Menschenmenge.
Conklin dachte an die Explosion. Er hetzte dem Major hinterher.
„Das ist leider nicht unser einziges Problem! Es sind noch andere Zeitreisende auf diesem Schiff.“
„Sie sind verrückt!“
„Erinnern Sie sich an die Explosion! Unsere unbekannten Gäste haben garantiert anderes mit Ihnen vor!“
„Sie wußten davon, Commander Conklin!“, entfuhr es Leena. Sie und Baldwin folgten den anderen entgegen dem Menschenstrom, der zum Rettungsboot drängte.
„Conklin? Ich dachte, Ihr Name wäre Browning?“, rief der Major über die Schulter. „Wer sind Sie wirklich?“
„Was spielt das für eine Rolle?“
„Sie wußten von alldem! Von der Explosion und dem anderen Team!“ Leena packte Conklin an der Schulter. „Warum haben Sie uns nicht informiert?“
Er fuhr herum und sah in ein Paar funkelnder Augen. „Ich habe es geahnt, nicht gewußt!“ Conklin senkte den Blick. „Konnte ich wissen, daß die soweit gehen, das Schiff mit einer Sprengladung zu versenken?“
„Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß die Titanic wegen mir versenkt wird?“ Offenbar hatte Butt das Gespräch mitverfolgt. Er wandte sich seinen drei Verfolgern zu. In dem Gedränge wurde er mehrmals angerempelt, die Hysterie um ihn herum nahm zu, schließlich wurde er abgedrängt.
„Ja, Sir!“ Conklin verlor ihn aus den Augen. „Aber wenn Sie die Katastrophe überleben, werden Ihnen Millionen anderer Menschen das Leben zu verdanken haben.“ Conklin schob einen Mann beiseite. „Wenn Sie es überleben“, fügte er hinzu, „denn wir haben es noch nicht überstanden!“
„Wie meinen Sie das?“, hörte er Butts verzweifelten Ruf aus der Menge. Conklin hoffte, daß sich in dem Gedränge kein Schuß aus Butts antiquiertem Revolver lösen würde.
„Lassen Sie Ihren Koffer in der Kabine. Sie müssen in dieses Boot einsteigen!“
„Nein!“
„Major Butt, Sie sind bei der Schiffskatastrophe ums Leben gekommen“, rief Conklin über die Köpfe der Menschen hinweg. „Wir vermuten, Sie wurden das Opfer einer Zeitmanipulation. Wir sind hier, um diesen Eingriff zu korrigieren …“
Ein Schuß krachte. Baldwin wurde zurück gerissen.

Das Wasser war bereits zehn Meter über Kiel gestiegen, als sich Hunderte Menschen um die Rettungsboote scharten. Eine Dreiviertel Stunde nach Mitternacht wurde das erste Rettungsboot mit siebenundzwanzig Personen zu Wasser gelassen, obwohl es mehr als doppelt so viele Personen aufnehmen hätte können. Die Menschen drängten sich an der Reling, schlugen sich um einen Platz und sprangen sogar ins Wasser, um sich am Boot festzuklammern. Kurz darauf wurden die Boote No. 6 mit achtundzwanzig Personen und No. 5 mit einundvierzig Personen an Bord zu Wasser gelassen; wiederum hatte jedes von ihnen ein Fassungsvermögen von fünfundsechzig Passagieren zu bieten. Panik und überstürztes Handeln ließen einen Fehler nach dem anderen geschehen, so daß viele Familien nicht einmal in die Nähe eines Rettungsbootes kamen. Als die Menschen erkannten, daß die Boote nicht ausreichten, entbrannten Schlägereien und Schußwechsel an den Decks. Unter ihnen befand sich ein Team von dunkel gekleideten Männern, das eine tödliche Mission zu erfüllen hatte.

Der Schuß versengte Baldwins Mantel an der linken Brusttasche. Der Stoff färbte sich dunkelrot. Baldwins Beine knickten weg. Während er am Promenadendeck zusammenbrach, riß er die Waffe hoch. Er leerte das Magazin in den Türrahmen des Niedergangs. Fünf Männer im Ölzeug stürzten daraus hervor. Vor Baldwin blitzten die Mündungsfeuer auf. Weitere Projektile durchschlugen seinen Mantel, und er wurde zu Boden gerissen.
Beim Krachen der Schüsse stob die Menschenmenge auseinander und gab den Blick auf Conklin frei. Er stand wie eine Zielscheibe neben der Leiter und beugte sich über die Reling.
„Warten Sie!“, brüllte er aus voller Kehle den Passagieren im Rettungsboot No. 7 nach. „Dieser Mann muß noch an Bord!“
Leena warf sich neben Baldwin auf die Bohlen des Promenadendecks. Sie eröffnete das Feuer auf die zusätzlichen Passagiere, die beim Lichten des Ankers, am 11. April in Queenstown, sicherlich noch nicht an Bord gewesen waren.
Um Conklin schlugen die Kugeln in den Holzboden. Er hetzte an der Reling entlang. Mittlerweile hatte sich die Menschenmenge in alle Richtungen verteilt. Mündungsfeuer blitzten auf, eine Leuchtrakete tauchte das Deck in blutrotes Licht. Der Major stand wie angewurzelt neben einer zusammengeknüllten Bootsplane. Seine Arme zitterten, der Revolver hing kraftlos in seiner Hand. Conklin packte den Major am Arm und zerrte ihn zur Leiter. Er deutete dem US-Major, die Sprossen hinunterzusteigen. Er stellte sich schützend vor Butt, den Arm ausgestreckt, und feuerte auf die Männer in den Öljacken. Der Major kletterte auf die Leiter, stürzte beinahe hinunter und verlor den Revolver. Die Waffe fiel klimpernd auf die Sprossen und versank im Meer. Als der Militär außer Sichtweite war, warf sich Conklin neben Leena auf den Boden. Gemeinsam würden sie den Abgang zu dem Boot so lange verteidigen, bis Butt weit genug entfernt war.
Der Schußwechsel dauerte nur wenige Augenblicke.

Major Butt war der 28. Passagier im Rettungsboot No. 7. Als eine Leuchtrakete ihre Spur über den Himmel zog, hatte er seine Bekanntschaft – den Industriellen Browning – aus den Augen verloren. Browning war nicht die Leiter hinunter gestiegen, so wie er. Die Insassen des Boots wollten nicht länger warten und hatten sich mit den Rudern abgestoßen. Der Major suchte Browning vergeblich. Dieser Fremde war für einen Augenblick aus dem Nichts aufgetaucht, um genauso spurlos wieder aus seinem Leben zu verschwinden. Genauso wie der Eisberg, dachte Butt. Er hüllte sich in eine Decke, dann packte er den Griff des Ruders. Das Eiswasser klatschte gegen die Außenwand. Rasch entfernte sich das Boot von der Titanic.

Um 02.18 Uhr rutschten alle beweglichen Gegenstände der Titanic auf den untergetauchten Bug zu. Die Schiffsbeleuchtung flackerte ein letztes Mal, anschließend brach der Dampfer in zwei Teile. Das Vorderschiff sank sofort. Das abgebrochene Achterschiff lief mit Wasser voll und sank zwei Minuten später. Der Dampfer hatte auf seiner Jungfernfahrt nur noch eine kurze Strecke zu überwinden: beide Teile der Titanic sanken auf den 3.800 Meter tiefen Grund des Atlantiks.
Um 08.30 Uhr des nächsten Tages wurde das letzte Rettungsboot von der Carpathia aufgenommen. Das Schiff verließ das Gebiet um 08.50 Uhr und nahm Kurs Richtung New York, wo es drei Tage später ankam. Von den 2.227 Menschen an Bord der Titanic konnten 705 gerettet werden.

Bevor sich die Titanic ein letztes Mal in der Kälte des Atlantiks aufgebäumt hatte, um anschließend auseinander zu brechen, öffnete sich für den Bruchteil einer Sekunde ein Raum-Zeit-Tunnel auf den geographischen Koordinaten 41° 46´ 54´´ nördliche Breite und 50° 14´ 39´´ westliche Länge. Lieutenant Leena und Commander Conklin wurden in die Zukunft aufgenommen … in eine Zukunft, in welcher der sogenannte Weltkrieg, dank des Einsatzes eines bedeutenden Mannes, 1918 beendet werden konnte und nicht bis in die Mitte der 30er Jahre gewütet und den gesamten Globus verheert hatte.

ENDE

© Andreas Gruber, 2001
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Der Autor:

Andreas Gruber wurde am 28. 08. 1968 in Wien geboren. Er studierte an der WU-Wien und arbeitet halbtags im Controlling eines Mittelbetriebs. Er hat einen Sohn und lebt in einem kleinen, kaum auffindbaren Dorf südlich von Wien.

Veröffentlichung einiger Arbeiten über »Creative Writing«, Publikation von Science Fiction-Kurzgeschichten in Magazinen, u.a. Alien Contact, Andromeda, Fantasia, Solar-X, sowie in Buchanthologien der Editionen DUM, NÖ-Kultur, des VirPriv und Aarachne Verlags. 2000 wurde er mit zwei SF-Kurzgeschichten zum Kurd Laßwitz-Preis nominiert, mit seiner SF-Kurzgeschichte »Das Planspiel« war er Preisträger beim Literaturwettbewerb des NÖ Donaufestivals 1999, ansonsten 2. Platz beim Marburg Award ’99 und 3. Platz beim Marburg Award ’98.

Sein 2000 in der Edition Medusenblut erschienener Kurzgeschichtenband: Der fünfte Erzengel, neun Horror-Stories, wurde für den Deutschen Phantastik Preis nominiert. 2001 erschien im Berliner Shayol-Verlag die Storykollektion »Die letzte Fahrt der Enora Time«, sieben SF-Erzählungen.

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»Einundvierzig Grad nördliche Breite« von Andreas Gruber 157.67 Kb
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