Ein Tribut an die Science Fiction-Story

Einführung in das Projekt

Die Geschichte der Short Science Fiction

von Michael K. Iwoleit

John Chow war ein Genie, ein Multitalent, als Athlet, Künstler, Techniker und Wissenschaftler gleichermaßen begabt. Er starb mit 24 bei einem Verkehrunfall, noch bevor er seine Talente ganz entwickeln konnte – ein Verlust einzigartiger biologischer Anlagen, den sich eine von weltweiten Hungersnöten dezimierte Menschheit nicht leisten kann. Und so lebt er in neuer Form weiter: Aus Chows Erbgut wurden Zehnlinge geclont, fünf Männer und fünf Frauen mit den gleichen Begabungen, den gleichen Reaktionen, den gleichen Bedürfnissen, ein multiples Individuum, das sich sozial, psychisch und sexuell selbst genügt. Bei schwierigen Erschließungseinsätzen auf fremden Planeten bilden sie ein perfekt eingespieltes Team.

Jeder halbwegs belesene SF-Fan kennt diese Geschichte. Ursula K. LeGuin schrieb sie 1968 unter dem Eindruck eines Kapitels in Gordon Rattray Taylors futorologischen Klassiker The Biological Time Bomb, einer wichtigen Inspirationsquelle für SF-Autoren in den Endsechzigern. In der Einleitung zu „Nine Lives“1 in ihrer Sammlung The Wind’s Twelve Quarters bemerkt sie dazu: „It is as near ‚hard-core‘ or wiring-diagram science fiction as I ever get; that is, a working out of a theme directly extrapolated from contemporary work in one of the quantitative sciences – a what-if story. The theme, however, is developed qualitatively, psychologically. Essentially I am using the scientific element, not as an end it itself, but as a metaphor or symbol, a means of saying something not otherwise expressible.“2

Ein minimales Verständnis dafür, was es bedeutet, mit den Mitteln der Science Fiction „etwas auszudrücken, was sich anders nicht ausdrücken läßt“, hätte viele fruchtlose Grundsatzdebatten um die SF überflüssig gemacht und der oft peinlichen Hilflosigkeit der Literaturkritik und -wissenschaft gegenüber dem Genre ein wenig abgeholfen. Wie alle großen SF-Stories bezieht „Nine Lives“ seine erzählerische Kraft aus einem Verfremdungseffekt, den ich – mit einem Begriff des Psychologen Abraham Maslow – als „peak experience“ bezeichnen möchte. Wer die SF als literarisch verbrämte Futorologie betrachtet, wer in der Extrapolation heutiger Trends ihr Hauptmerkmal sieht oder meint, sie könne sich nur durch unmittelbare Reflektion über Zustände in unserer Welt eine bescheidene Existenzberchtigung erkaufen, übersieht diese Qualität schlichtweg (und bemerkt vermutlich nicht, daß die beiden vordergründig ereignisärmsten Passagen in LeGuins Geschichte die wichtigsten sind). Es ist unerheblich oder bestenfalls ein Nebenaspekt, ob LeGuin beim Abfassen ihrer Geschichte eine realistische Vorstellung vom Cloning hatte oder das Verhältnis von Prägung und genetischer Veranlagung richtig eingeschätzt hat. Die irritierende, im Idealfall karthatische Wirkung von SF beruht auf etwas anderem: Sie kann den Blickwinkel des Lesers verschieben, scheinbar selbstverständliche Aspekte seiner Realität, seines physischen Seins, seiner sozialen, psychischen oder biologischen Natur in ein anderes Licht rücken. Es ist mir Jahre Arbeit und viele Einzeluntersuchungen wert, um zu zeigen, daß dieses Heraustreten aus dem Selbstverständlichen, diese Modifikation der menschlichen Selbstwahrnehmung ein kreatives Grundpotential der SF darstellt, das quer durch die Geschichte des Genres in der gedrängten, verdichteten Form der Story immer die überzeugendsten Ergebnisse hervorgebracht hat. Das Leitmedium der SF, auch wenn es neue Lesergenerationen kaum mehr wahrnehmen, war und ist die Story.

In „Nine Lives“ gelingt LeGuin dieser Verfremdungseffekt gleich zweimal, aus zwei komplementären Blickwinkeln. Als John Chows Zehnerclone zu einem Bergwerkseinsatz auf dem vulkanisch aktiven Planeten Libra eintrifft, begreifen Pugh und Martin, die dort eine kleine Prospektorstation betreuen, sehr schnell, daß sie es mit einer anderen menschlichen Existenzform zu tun haben. Die zehn jungen, feenhaft perfekten Männer und Frauen, die ihre Wohnkuppel wie ein Bienenschwarm menschlicher Aktivität in Beschlag nehmen, sind freundlich, kollegial und geben bereitwillig über sich Auskunft, aber ein grundlegendes Element menschlicher Interaktion fehlt. Interesse am anderen, Wünsche und Begehren, die auf andere gerichtet sind – all das kennen diese Wesen nicht. Pugh und Martin werden zu fassungslosen Zuschauern eines verzehnfachten Ichs, das nicht nur mit erschreckender Effizienz zu Werke geht, sondern sich alle psychischen, sozialen und sexuellen Bedürfnisse selbst befriedigt und deshalb gar keinen Bedarf an einem Kontakt mit dem Anderen, dem Fremden hat. In einem sehr konkreten Sinne werden Pugh und Martin von den Clones überhaupt nicht wahrgenommen.

Eine ähnliche Erschütterung dessen, was für ihn bisher so selbstverständlich war, daß er es nie wahrgenommen hat, erlebt in der zweite Hälfte der Geschichte der Clone Kaph, nachdem seine neun Geschwister bei einem Höhleneinsturz ums Leben gekommen sind. Plötzlich muß er sich in einer Welt zurechtfinden, in der er nicht mehr Teil eines Ganzen ist, das seine eigenen Bedürfnisse und Reaktionen widerspiegelt. Plötzlich ist er gezwungen, das Fremde, Andere in den Menschen wahrzunehmen, mit denen er zu tun hat. Am Ende der Geschichte fragt er Pugh:

„Do you love Martin?“
Pugh looked up with angry eyes: „Martin is my friend. We’ve worked together, he’s a good man.“ He stopped. After a while he said: „Yes, I love him. Why did you asked that?“
Kaph said nothing, but he looked at the other man. His face was changed, as if he were glimpsing something, he had not seen before; his voice too was changed. „How can you… Hou do you…“
But Pugh could not tell him. „I don’t know“, he said, „it’s practice, partly. I don’t know. We’re each of us alone, to be sure. What can you do but hold your hand out in the dark?“3

In solche Szenen erweist sich Ursula K. LeGuin – die nah genug an der humanistischen Literaturtradtion ist, daß sie, ähnlich wie Lem, allzu oft als Ausnahmeerscheinung zur Abqualifizierung der übrigen SF herhalten konnte – als echte SF-Autorin. Die Kunst, zu der sich das Medium SF-Story entwickelt hat, beruht zu einem großen Teil auf der immer neuen Variation und Zuspitzung solcher „peak experiences“ Momente der Erschütterung oder Erkenntnis, wenn der Protagonist – und mit ihm der Leser – sich oder einen Teil seiner Wirklichkeit, vielleicht zum ersten Mal, in seiner ganzen Bedingtheit, Relativität, Beschränktheit begreift.

Jeder, der sich mit Science Fiction auskennt, könnte zahlreiche Beispiele dafür nennen: die Schlußsequenz von Robert Silverbergs „Sundance“4, in der Wahrheit und Wirklichkeit ähnlich ins Schwimmen geraten wie in den besten Werken Philip K. Dicks; die ergreifendsten Abschnitte in Daniel Keyes‘ „Flowers for Algernon“5, als Charlie sich gegen den unaufhaltsamen Rückfall in die Debilität aufbäumt; die Begegnung mit den körperlosen Aliens auf der postapokalyptischen Erde in James Tiptree jr.s „Her Smoke Rose Up Forever“6; die Schlüsselszene in William Gibsons „The Gernsback Continuum“7, als der Photograph für einen Moment leibhaftig in die „Zukunft, die es nie gab,“versetzt wird. Es ist so oft über die angebliche Dauerkrise der SF lamentiert worden, über die Flut von Schund, in der die wenigen Perlen der SF-Literatur ersaufen, daß es an dieser Stelle einmal erlaubt sein soll, die Stärken des Genres herauszustellen. Barry N. Malzberg wagte einmal über Alfred Besters Story „Fondly Fahrenheit“8 die Behauptung: „There has been nothing like this story in modern American literature; that it was published over a quarter of a century ago and is still unknown outside of science fiction is an indictment of the academic-literary nexus, which in the very long run, if there is any future for scholarship at all, will pay heavily.“9 Man mag skeptisch sein, wenn ein Autor, dessen Werk (auch, aber nicht nur) eine große Abrechnung mit der SF ist, solch exorbitantes Lob ausspricht – aber bei näherem Hinsehen könnte sich herausstellen, daß „Fondly Fahrenheit“bei weitem nicht die einzige Story ist, zu der sich außerhalb der SF kein Gegenstück finden läßt. Es ist mir nicht bekannt und ich bezweifle, ob ein Mainstream-Autor derselben Generation etwas geschrieben hat, das an die alptraumhaft-hynotische und doch so nüchtern und prosaisch geschilderte Hölle in Cordwainer Smiths „A Planet Named Shayol“10 heranreicht. Es bedarf wohl der Kühnheit eines SF-Autors im Umgang mit der ontologischen und literarischen Kategorie Zeit, um ein so starkes Symbol für die menschliche Existenz wie in David I. Massons Kurzgeschichte „Traveler’s Rest“11 zu finden. Es erfordert eine Phantasie und ein Gespür für die intimen Verstrickungen von Technologie und Gesellschaft, die in der übrigen Literatur nahezu unbekannt sind12, um eine Zukunftswelt mit solcher Wucht und Dichte wie in David Maruseks Novelle „We Were Out of Our Minds With Joy“13 zu portraitieren. (Die Liste ließe sich beliebig verlängern). Welche Ausdrucksmöglichkeiten, welche intellektuellen Herausforderungen die Science Fiction hervorgebracht hat, wird kein Außenstehender je beurteilen können, der den SF-Autoren zum tausendsten Mal das Offensichtliche vorwirft (daß SF, wie nahezu alles in einer profitorientierten Weltordnung, zunächst einmal eine Ware ist, hat niemand ernsthaft bestritten), statt sich auch nur annähernd einen Eindruck von den besten Leistungen des Genres zu verschaffen – und dabei handelt es sich zu einem großen Teil um Kurzgeschichten, Erzählungen und Novellen. Aber um nicht selbstgerecht zu klingen: Der Reichtum der SF-Kurzprosa gerät auch in der SF-Szene immer mehr aus dem Blick. In dem Bild, das sich die Szene selbst von der SF macht, drohen ernsthafte Lücken dadurch zu entstehen, daß die Story kommerziell immer mehr an Bedeutung verliert und von Lesern und Rezensenten entsprechend weniger beachtet wird. Grund genug für ein Projekt wie die Geschichte der Short Science Fiction.

***

„Science fiction, at the cutting edge, has always flourished in the short story“ schreibt Barry N. Malzberg in der Einleitung zu einer sehr persönlichen Auswahl der zehn besten SF-Stories aller Zeiten. „Perhaps the genre by definition will sustain its best work in that form; here a speculative premise and a protagonist upon whose life that premise is brought to bear can be dramatically fused with intensity. (…) While science fiction in its modern inception has has produced possibly ten novels that might be called masterpieces, it has given no less than several hundred short stories that would justify that difficult and presumptous label.“14 Ich möchte Malzberg zwar in der Hinsicht widersprechen, daß es – nach meinem besten Wissen – mehr als zehn Science Fiction-Romane gibt, die das Prädikat Meisterwerk mit Fug und Recht verdient haben, darunter einige vernachlässigte Außenseiter15, aber an den Proportionen ändert das nichts – was schon eine flüchtige, unsystematische Aufzählung von Autoren ahnen läßt, die vor allem mit ihren Erzählungen die moderne SF geformt haben: Stanley G. Weinbaum in den Dreißigerjahren, Henry Kuttner und C.L. Moore in den Vierzigern, Sturgeon, Bester, Knight, Pohl, Tenn in den Fünfzigern, Cordwainer Smith und J.G. Ballard in den Sechzigern, Silverberg und Tiptree in den Siebzigern, Shepard in den Achtzigern, Egan, Kelly, McAuley seit den Neunzigern (und damit ist nicht einmal die Spitze des Eisbergs berührt). Richtig ist auch, wie Malzberg anmerkt, daß die meisten Romane, die allgemein als Meisterwerke des Genres angesehen werden, aus Erzählungen zusammengesetzt oder ausgearbeitet wurden, etwa Sturgeons More Than Human oder Millers A Canticle for Leibowitz.16

Weiter unten schreibt Malzberg: „Too, it is in America in the twentieth century that the short story has reached its apotheosis; our one great contribution to world culture might be the American short story, which has become a wondrous and sophisticated medium.“17 Malzbergs Blick ist zu sehr auf die amerikanische Literatur verengt, sonst hätte er an dieser Stelle mit noch größerer Berechtigung auf die ungeheuere Sogwirkung hinweisen können, die die Entwicklung der Kurzgeschichte für die gesamte moderne Literatur hatte (und die ihre Apotheose nicht nur in den virtuosesten und verfeinertsten Kurzgeschichtenautoren der amerikanischen Nachkriegsliteratur gefunden hat – etwa Donald Barthelme oder Dorothy Parker -, sondern auch, in ganz anderer Form freilich, bei J.L. Borges). Es wäre ein lohnendes Projekt, die Evolution der modernen Kurzgeschichte von Pionieren wie Guy de Maupassant und Anton Tschechow über die short story-Monumente der USA (Fitzgerald, Hemingway) und Großbritanniens (Kipling, Maugham) bis zu einigen der extravagantesten Gegenwartsautoren (etwa Jayne Anne Phillips) in einer großen, zusammenhängenden Literaturgeschichte nachzuzeichnen, in der die Short Science Fiction eine nicht unbedeutende Rolle spielen müßte. Bei einer so vielfältigen Gattung wie der Kurzgeschichte, die alle erdenklichen Vorstöße ins Surreale, Absurde und Phantastische unternommen hat, sind Verallgemeinerung mit Vorbehalt zu genießen, dennoch sei die Arbeitsthese gewagt: Mit den zunehmend komplexeren und eleganteren Lösungen, die Kurzgeschichtenautoren für die spezifischen darstellerischen Probleme der Science Fiction gefunden haben, ist eine eigenständige Facette der modernen Kurzprosa entstanden, die sich vermutlich nicht entwickelt hätte, wenn die Science Fiction nicht immer ein mehr oder minder suspektes, von der übrigen Literatur abgesondertes Gebiet mit seinen eigenen Traditionen und Kniffen gewesen wäre.

Ein häufig geäußerter Vorwurf gegen die Science Fiction ist, daß sie keinen eigenen Stile und Techniken hervorgebracht habe. Wer Argumente dafür sucht, kann darauf verweisen, daß der überwiegende Teil aller SF-Romane konventionelle Erzähltechniken verwendet, die noch aus dem Neunzehnten Jahrhundert stammen. Es läßt sich auch leicht argumentieren, daß die meistdiskutierte Erneuerungsbewegung der SF, die britische New Wave, ziemlich überstürzt und oberflächlich die literarische Avantgarde vom nouveau roman bis zur konkreten Poesie geplündert, den Vorbildern aber wenig Eigenes entgegengesetzt hat.18 Hinter solchen Argumenten steckt ein Irrtum, dem auch die exaltiertesten Vertreter der New Wave angehangen haben: daß fortgeschrittene literarische Techniken unbedingt etwas mit sprachlichen Extravaganzen, mit Zersplitterung des Textzusammenhangs, mit gewollter Verkomplizierung und Verdunklung zu tun haben müssen. Wer Eigenständiges in der SF sucht, muß auf einer viel elementareren Ebene anfangen: Bei den schwierigen erzählerischen Problemen, die sich ergeben, wenn dem Leser auf begrenztem Raum die Prämissen und Konsequenzen einer anderen Welt vermittelt werden müssen, die sich drastisch von seiner eigenen Erfahrungswelt unterscheiden kann.

Samuel R. Delany – der als einer der wenigen SF-Insider auch das Instrumentarium der Literaturwissenschaft souverän beherrscht – hat in einigen Aufsätzen19 gezeigt, daß SF-Texte eine spezifische Leseweise erfordern, und daß Leser, die sich diesen SF-„Modus“20 nicht (oder noch nicht) angeeignet haben, oft schon mit den einfachsten rhetorischen Wendungen in einer SF-Geschichte überfordert sind. Er zitiert als Beispiel einen Satz aus Pohls/Kornbluths The Space Merchants:
I rubbed depilatory soap over my face and rinsed it with the trickle from the fresh water tap.21

Ein Mainstream-Leser wird sich bei diesem Satz vermutlich darüber wundern, daß von einem „fresh water tap“ die Rede ist. Ist es nicht eine Selbstverständlichkeit, daß aus Wasserhähnen Süßwasser fließt? Ein solcher Leser setzt voraus, daß die Welt, in der sich die Figuren einer Geschichte bewegen, in grundsätzlichen Zügen mit seiner eigenen Erfahrungswelt übereinstimmt. Ein SF-Leser dagegen, der darauf gefaßt ist, daß die Geschichte vor dem Hintergrund einer anderen Welt spielt, achtet auf jedes Detail, das ihm etwas darüber verrät, wie sich diese Welt von seiner vertrauten unterscheidet. Aus dem Vorhandensein eines Süßwasserhahns schließt er leicht darauf, daß es auch einen Salzwasserhahn geben muß, und das spärliche Tröpfeln aus dem Süßwasserhahn liefert ihm auch einen Hinweis, was der Grund dafür sein könnte. Im weiteren Verlauf der Geschichte bestätigt sich dann seine Vermutung, daß in der Welt von The Space Merchants ein Süßwassermangel besteht und für viele Zwecke mit Salzwasser Vorlieb genommen werden muß.

Das grundlegende darstellerische Problem der Science Fiction besteht darin, im Dialog mit einem Leser, der den SF-Modus beherrscht, mit Hilfe solcher Hinweise, Andeutungen und im Handlungsverlauf eingeschobenen Informationen Schritt für Schritt eine andere Welt aufzubauen. (Eine Liste von typischen Anfängerfehlern, die Bruce Sterling für SF-Seminare zusammengestellt hat, enthält einige Beispiele dafür, wie man es nicht anstellen sollte.22) Es erfordert bereits eine solide handwerkliche Leistung, dieses Problem in einem Text von Romanlänge einigermaßen elegant und ökonomisch zu lösen. Wer dasselbe in der Enge einer Kurzgeschichte bewerkstelligen will, steht vor ungleich größeren Schwierigkeiten. Auf wenigen Seiten die Konturen einer anderen Welt zu zeichnen, die Konsequenzen einer spekulativen Prämisse fühl- und vorstellbar zu machen, Charaktere zu skizzieren, deren Motivationen dem Leser womöglich völlig fremd sind – das ist eine Herausforderung, die sich so nur in der SF stellt. Es ist eine Binsenweisheit, daß an Widerständen Talente heranwachsen, und auch die SF macht dabei keine Ausnahme. Die besten Kurzgeschichtenautoren der SF haben für die Problematik ihres Mediums Lösungen gefunden, die in mancher Hinsicht über die Techniken der Andeutung und Verdichtung hinausgehen, die ihre Mainstream-Kollegen entwickelt haben. Eine SF-Story ist ein Spiel mit der Erwartungshaltung des Lesers, ein Versuch, seine Vertrautheit mit Motiven und Konventionen der SF zu überlisten. Wer die ersten Szenen von James Tiptree jr.s „Her Smoke Rose Up Forever“liest, dürfte kaum damit rechnen, daß er es mit einer post-doomsday-Geschichte zu tun hat, und erst auf den letzten Seiten wird klar, auf welch raffinierte Weise hier das Weltuntergangsmotiv zu einer pessimistischen Aussage über den Menschen variiert wurde. Weit mehr als in der Romanform wurden in der Story die Möglichkeiten typischer SF-Motive – Zeitreisen, Dystopien, Apokalypsen, künstliche Intelligenzen und so weiter – ausgereizt und gesprengt. Die SF-Story – die ihren bisherigen Höhepunkt vielleicht in den besten Erzählungen der Siebzigerjahre erreicht hat, etwa Tiptrees „The Screwfly Solution“23, Edward Bryants „Particle Theory“24 oder einigen Erzählungen von Carter Scholz – ist eine Kunst der Zuspitzung geworden. Die stärkste Ausdrucksmöglichkeit der SF – das, was ich eingangs als „peak experiences“bezeichnet habe – ist in keinem anderen Medium so klar und intensiv hervorgetreten.

Karl Michael Armer schrieb bereits 1986 einen Artikel, in dem er das geringe Ansehen beklagte, das die SF-Kurzgeschichte hierzulande genießt.25 Die Leserbequemlichkeit hat es mehr und mehr als Zumutung empfunden, sich alle paar Dutzend Seiten eine neue Welt vorstellen zu müssen, und ist auf den Konsum von Endlosserien und -zyklen ausgewichen, die es einem leicht machen – um eine Formulierung von Wolfgang Jeschke zu gebrauchen -, „geistig die Hausschuhe anzulassen“ Kritiker betrachten die Kurzgeschichte eher als Fingerübung denn als eigenständige literarische Form und sehen es als natürliches Ziel eines Autors an, Romane zu verfassen. Armers Analyse trifft heute noch mehr zu als damals, und nicht nur deshalb, weil SF-Verlage die Publikation von Anthologien und Collections sukzessive heruntergefahren haben. Selbst von jüngeren Lesern, die ich für intelligent und urteilsfähig halte, bekomme ich immer öfter zu hören, daß sie lieber Romane als Stories lesen. Persönliche Präferenzen sind eine Sache, aber was sich zur Zeit abspielt, ist ein genereller Trend hin zu Verwässerung, zur Betriebsblindheit und zur puren Ignoranz. Die lauten Klagen über den angeblichen Niedergang der SF, die immer häufiger geäußert werden, sind nicht zuletzt dadurch zu erklären, daß die vielen exzellenten SF-Stories, die in den Neunzigerjahren erschienen sind – fast ist man versucht, von einer kleinen Blütezeit zu reden – offenbar komplett übersehen wurden. Die Frage muß gestattet sein, wie Leser und Kritiker den Zustand der SF beurteilen wollen, die zwar Greg Egans Romane kennen, nicht aber seine Kurzgeschichtenbände Axiomatic und Luminous, die James Patrick Kelly übersehen haben, weil er in erster Linie Stories schreibt, die von interessanten Newcomern wie David Marusek oder Charles Stross schon gar nichts gehört haben. Und wenn wir einige Schritte zurücktreten: wie unvollständig und verzerrt muß das Bild erst sein, das sich jemand von der SF macht, wenn er Geoff Rymans Erzählung „The Unconquered Country“26 übersehen hat, wenn ihm bis heute unbekannt geblieben ist, daß Gene Wolfe mit den drei kunstvoll verwobenen Novellen in The Fifth Head of Cerberus ein Meisterwerk der SF geschaffen hat, wenn er so eigenwillige und brillante Autoren wie Avram Davidson, R.A. Lafferty, David R. Bunch, Barrington J. Bayley oder Charles L. Harness nie zur Kenntnis genommen hat. (Und auch hier gilt: die Liste ließe sich beliebig verlängern.) Bei dem dürftigen Standard, zu dem die SF-Rezeption in Deutschland verflacht ist, wundert es dann auch nicht, daß eigenständige Fortführungen der SF-Storytradition etwa in Frankreich (Gerard Klein, Jean Pierre Andrevon), in Skandinavien oder Lateinamerika praktisch nie in die Bewertung der SF einfließen. Es ist leicht, polemische Breitseiten gegen die Science Fiction abzufeuern, wenn man die beschwerliche Last solcher Literaturkenntnisse nicht mit sich herumträgt.

Samuel R. Delany kritisierte die Geschichtsblindheit, die Literaturwissenschaftler gegenüber der SF an den Tag gelegt haben: „The working assumption of most academic critics (…) is that somehow the history of science fiction began precisely at the moment they began to read it – or, as frequently, in the nebulous yesterday of sixteenth- or seventeenth-century utopias. For both notions accomplish the same thing: they obviate the real lives, the real development, and finally the real productions of real sf writers, a goodly number of whom are still alive, if not kicking.“27 Diese Ahnungslosigkeit ist längst kein Privileg der akademischen SF-Kritik mehr. Sie ist bei einem Großteil der Leserkreise zu beobachten, die durch Film und Fernsehserien auf die SF aufmerksam geworden sind und sich dem Konsum des immer Gleichen verschrieben haben. Sie macht sich, in mehr oder weniger starker Ausprägung, immer wieder bemerkbar, wenn etwas von den Entwicklungen in der SF an die Öffentlichkeit dringt und Außenstehende mit erkennbar lückenhaften Kenntnissen sich zu Kommentaren herausgefordert fühlen. Liest man etwa einige der Artikel, die Wolfgang Neuhaus in dem Online-Magazin Telepolis veröffentlicht hat, stellen sich manche Fragen, die wichtigste vielleicht, ob es den Abonnement-Pessimisten nicht allmählich selbst langweilig wird, für die SF zum jüngsten Gericht zu blasen, warum sie nicht ein bißchen daraus gelernt haben, daß schon in den Achtzigerjahren28 mit fast deckungsgleichen Argumenten der baldige Untergang der SF prophezeit wurde (zu einer Zeit, als die SF in Deutschland noch Auflagen erreichte, über die Verleger heute in Freudentänze ausbrechen würden). Ein Großteil der SF-Rezeption in Deutschland ist Krisen-Rezeption. Ihre Leier ist alt und vorhersehbar: Erfreut sich die SF kommerzieller Gesundheit und stabil hoher Auflagen, wird ihr vorgeworfen, daß sie an ihrem eigenen Erfolg zugrunde gehe. Sind die Auflagen rückläufig und verliert sie Marktanteile an andere Medienangebote, so kann dies natürlich nur ein Symptom dafür sein, daß sich das Interesse an SF-Literatur erschöpft hat (dabei liegen selbst die heutigen mickrigen SF-Auflagen weit über den Durchnittauflagen, die „moderne“ Literatur erreicht). Es gibt kaum ein menschliches Schaffensgebiet, dem so oft eine fatale Krise nachgesagt wurde wie der Science Fiction, und das dennoch seit Jahrzehnten eine stetige, nie abgerissene Entwicklung durchgemacht hat – schwerpunktmäßig allerdings in einer Form, die mit gleichbleibender Oberflächlichkeit ignoriert wird: der Story nämlich.

„Ein Genre vor der (Selbst)-Auflösung?“29 lautet der Titel eines Artikels, den Wolfgang Neuhaus im letzten Science Fiction-Jahr bei Heyne veröffentlicht hat. Sollte sich Neuhaus‘ Mischung aus Faszination, Resignation, selektiver Wahrnehmung und kleinen, entscheidenden Unschärfen in der SF-Kritik durchsetzen, so wäre der Titel „Ein Genre vor der Selbstzerfleischung“ passender gewesen. Sehen wir darüber hinweg, daß Neuhaus offenbar immer noch meint, es gehe in der SF um Zukunftsentwürfe und nicht eher um Modell- und Alternativdenken. Sehen wir über die kühne Behauptung hinweg, daß „das Internet als eine Art Welt-Datenbank“30 in der SF vorgedacht worden sei (eine Welt-Datenbank ist das Internet31 nun beim besten Willen nicht, sondern ein anarchisch wuchernder Datenraum, in dem Informationen immer flüchtiger und unzuverlässiger werden, und genau diese Eigenart wurde, meines Wissens, von SF-Autoren nicht vorhergesehen32). Sehen wir über Neuhaus‘ Klage hinweg, daß potentielle SF-Leser wie Wissenschaftler und Informatiker nicht mehr genug interessant konzipierte SF finden (da muß man fragen, wo sie gesucht haben). Konzentrieren wir uns auf etwas Symptomatischeres: Die „Geschichte der SF“, die Neuhaus auf zweieinhalb Seiten kondensiert, wird dadurch nicht richtiger, daß sie hier zum hundertsten Mal jemand aus dem Lexikon der Science Fiction-Literatur abgekupfert hat. Man kann von keinem Autor verlangen, daß er in wenigen Absätzen eine erschöpfende Geschichte des Genres unterbringt, doch wer unter „Geschichte“ein paar aneinandergepappte Standardphrasen versteht, muß sich die eine oder andere kleine Anmerkung gefallen lassen: zum Beispiel die, daß C.L. Moore die biedere frühe Magazin-SF schon Anfang der Dreißigerjahre durch ihre Story „Shambleau“33 nachhaltig erschüttert hat; daß es Moore und Kuttner mit ihren besten Geschichten in der Vierzigerjahren gelungen ist, das Hard-SF-Paradigma der Campbell-Ära kunstvoll zu unterlaufen; daß die Sechzigerjahre nicht nur die New Wave sondern auch die Entfaltung eines der eigenwilligsten fiktiven Universen der gesamten SF erlebt haben – in den Geschichten von Cordwainer Smith; daß es in den Achtzigerjahren nicht nur den Boom des Cyberpunks sondern, in drastischem Kontrast dazu, auch den Einbruch eines „magischen Realismus“ in die SF in den Erzählungen von Lucius Shepard und in „The Unconquered Country“ von Geoff Ryman gegeben hat. Es geht mir bei all dem nicht um Details, über die sich endlos diskutieren läßt, sondern um das völlig schiefe und unzureichende Bild, das entsteht, wenn die Vielschichtigkeit der SF-Storytradition nicht annähernd mitgedacht wird.

Bei seinem Versuch, die aktuellen Probleme der SF einzukreisen, argumentiert Neuhaus: „Die Form des Romans ist eine Tradition des 19. Jahrhunderts und spiegelt Vorgänge der bürgerlichen Selbstbehauptung in einer bestimmten Erfahrungswelt; heute werden Erfahrungen in größeren Kontexten über andere Medien vermittelt. (…) Die neuen Raumerfahrungen im Zuge der Globalisierung (…) sind für die Vermittlung über die Romanform möglicherweise nicht geeignet.“34 Ich bezweifle, ob man mit einer solchen Einschätzung Büchern wie William Gaddis‘ JR oder Don DeLillos White Noise und Mao II gerecht wird, die durchaus Möglichkeiten aufgezeigt haben, innerhalb der Romanform unser heutiges, von unpersönlichen Mächten, Medien und Massenphänomenen bestimmtes Erleben wiederzugeben. Für die SF ist dieses Argument jedenfalls irrelevant, denn die SF ist nie ein Romangenre gewesen. Weder die Form noch die Weltanschauung des bürgerlichen Romans ist im SF-Roman je vollständig assimiliert worden (nicht einmal dort, wo man mit gewisser Berechtigung von SF-„Bildungsromanen“ sprechen kann, etwa Ursula K. LeGuins The Dispossessed). Wolfgang Jeschke hat mehrfach darauf hingewiesen35, daß im englischsprachigen Raum zwischen zwei Romantraditionen unterschieden wird, dem „novel“ der die Reifung oder das Scheitern eines Individuums in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft schildert, und der „romance“, der es ums Erzählen selber geht, um das phantasievolle Arrangement von dramatischen und sinnlichen Reizen. SF-Romane sind, mit wenigen Ausnahmen, moderne „romances“, zwar mit anderem Inventar und anderen Bilderwelten als ihre Vorläufer im Neunzehnten Jahrhundert, doch mit derselben naiven – das Wort sei hier nicht als Tadel verstanden – Begeisterung für den „sense of wonder“, für das Kitzeln der Phantasie, für das Spiel mit kindlichem Sehen und Staunen. Die „romance“ ist eine episodische Form, eine Aneinanderreihung von Abenteuern, und ihre Gestalten schlagen selten den großen Entwicklungsbogen, den klassische Romanleser etwa in den Romanen von Henry James oder Thomas Mann bewundert haben. Ihre Mittel sind Überrumpelung, Suggestion (fast könnte man sagen: Verführung) und eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegen Logik und Wahrscheinlichkeit. Daß diese Form, die eher eine Collage von Erzählungen ist und nur in sehr vordergründiger Hinsicht Romanhaftes zustandebringt, in der SF überwiegt, ist ein weiter Hinweis darauf, daß die Science Fiction von ihrer Anlage her zur kurzen Form neigt (und je weniger die ziegelsteindicken SF-Schwarten von heute zu einer überzeugenden Großform finden, je episodischer und repetiver sie werden, um so deutlicher wird es). Die klassischen Methoden der Science Fiction – Alternative, Verzerrung, Verfremdung, Zuspitzung, Übertreibung – sind Mittel der Steigerung, wie sie sonst nur in der Satire eingesetzt werden36, und sie funktionieren deshalb am besten in einem Medium, dem es selbst auf Intensivierung, auf Verdichtung, auf geballte Wirkung ankommt, weniger in einem ausdifferenzierten, weiter ausholenden Weltentwurf, wie ihn der Roman anstrebt.

Eine Literaturgeschichte der Science Fiction unter diesem besonderen Aspekt ist, meines Wissens, noch nicht geschrieben worden, und ich fürchte, künftigen Generationen von SF-Autoren, -Kritikern und -Lesern werden wesentliche Kenntnisse ihrer eigenen Geschichte verloren gehen, wenn ein solches Projekt nicht wenigstens einmal versucht wird. Samuel R. Delany schreibt über die bislang bekannteste SF-Literaturgeschichte, Brian Aldiss‘ Billion Year Spree, daß „entertaining as parts of it are, (it) is basically useless as a history of science fiction – for it covers desultory writing from Mary Shelley’s Frankenstein to the first use of the term science fiction in 1929, then careens through all that legitimately bears the SF label itself in a handfull of pages that, once it passes the Second World, becomes mere listing.“37 Bei aller Bewunderung für Aldiss‘ Prosa und Belesenheit ist es doch bedenklich, daß selbst in der Neubearbeitung seines Werks, um nur zwei Beispiele zu nennen, Cordwainer Smith nur ein einziges Mal erwähnt oder Eric Frank Russel, wie Mike Resnick beklagte38, nur beiläufig abgehandelt wird. Hier zeigt sich erneut ein grundlegender Mangel in der Aufarbeitung der SF: eine eklatante Vernachlässigung der Story. Delany schreibt: „(…) the best histories of science fiction remain the commentaries of Merril and Asimov in their various anthologies, the collected reviews of Knight in In Search of Wonder and Blish in The Issue at Hand and More Issues at Hand, and of the Panshins in SF in Dimension; for the rest one must go digging through back issues of old SF magazines for reviews by Merril, Budrys, del Rey, and Miller. Frequently wrong, frequently brillant, wrong or right they were responding to what was happening in the field; and their criticism, in conjuction with the texts, is the only way to find what was happening, whether as ambiance or as dates and occurances.“39. Was die Geschichte der Short Science Fiction angeht, könnte man ergänzen: einige Artikel in Barry N. Malzbergs The Engines of the Night, Mike Ashleys Bände zur Magazingeschichte, die Einleitungen und Nachwörter zu den Storybänder der NESFA Press oder die Kommentare von Robert Silverberg, David Hartwell oder (mit Abstrichen) von Gardner Dozois in ihren diversen Anthologien. Das Rückgrat der SF-Geschichte – die Entwicklung von Themen, Motiven und Techniken der SF-Story – ist bis heute nur in solch verstreuten Quellen dokumentiert. Wer es genauer wissen will, müßte sich durch alte Magazinjahrgänge, Collections, Anthologien und die zahlreichen peripheren Medien arbeiten, die sporadisch SF veröffentlicht haben (von der Saturday Evening Post bis zu Omni und Playboy). Eine zusammenhängende, detailierte Darstellung dieser Geschichte ist ein Desiderat, geradezu eine peinliche Lücke in der SF-Kritik. Meine Geschichte der Short Science Fiction soll ein erster Versuch sein, diese Lücke zu schließen.

***

Im Vorwort zu seinem Lexikon der Phantastischen Literatur bedankt sich Rein A. Zondergeld bei einem Freund dafür, daß er „mich (…) an die Sinnlosigkeit jedes menschlichen Unternehmens erinnerte und mir dadurch die nötige Kraft zum Weiterarbeiten gab“ Jeder, der sich einmal an eine Mammutarbeit gewagt hat, kann diesen Stoßseufzer nachempfinden. Nach meinen bisherigen Recherchen schätze ich, daß allein im englischsprachigen Raum seit den Zwanzigerjahren mindestens zwölftausend SF-Stories veröffentlicht wurden. Nimmt man die anderen Sprachräume dazu und steckt die Grenzen des Genres etwas weiter (Science Fiction im südamerikanischen oder asiatischen Raum ist nicht immer mit der angloamerikanischen SF vergleichbar), so dürften dreißig- bis vierzigtausend Erzählungen keine schlechte Schätzung sein. Kein einzelner Chronist, selbst wenn er wie ich nicht damit rechnet, in weniger als zehn Jahren eine fertige Darstellung vorlegen zu können, kann hoffen, dieser enormen Produktivität ganz gerecht zu werden, und jede so entstandene Geschichte der SF-Story kann nur ein Fragment einer weit umfangreichen Geschichte sein, die erst noch geschrieben werden müßte. Diese Version wird aber wohl ungeschrieben bleiben, und deshalb bin ich der Überzeugung, daß selbst ein Fragment von erheblichem Nutzen für das Verständnis der SF und ihrer Geschichte sein kann. Die Geschichte der Short Science Fiction, die ich plane, wird – natürlich – zu einem beträchtlichen Teil eine Geschichte der amerikanischen und britischen SF-Magazine, ihrer Autoren, Herausgeber und wichtigsten Veröffentlichungen sein. Sie wird aber, um ihrem Gegenstand gerecht zu werden, noch sehr viel mehr sein müssen: Eine Referenz der Entwicklungen in anderen geographischen und Sprachräumen, von den weniger beachteten SF-Szenen der englischsprachigen Welt – Australien, die englischsprachigen Provinzen Kanadas – über Frankreich, Italien, Deutschland und Osteuropa bis hin zu den Exoten auf der SF-Weltkarte wie Südamerika, Japan oder Indien. Sie wird sich auch mit den vielen Autoren befassen müssen, die vor allem deshalb weitgehend vergessen sind, weil sie „nur“ eine Handvoll Erzählungen geschrieben haben, etwa Richard McKenna oder Theodore L. Thomas.

Leser, die ich mit dem vorliegenden Artikel auf mein Projekt neugierig gemacht habe, möchte ich nun nicht auf einen fernen Tag im Jahre 2010 oder 2015 vertrösten, wenn die fertige Geschichte der Short Science Fiction erscheinen kann. Um das Terrain abzustecken und die ersten Konturen dieser Geschichte zu ziehen, werde ich in nächster Zeit zunächst eine Reihe von Essays über herausragende Kurzgeschichtenautoren der SF schreiben, die in einschlägigen Medien – dem Quarber Merkur, dem Science Fiction-Jahr oder online – erscheinen werden. Aufsätze über David I. Masson, Carter Scholz und Greg Egan, die als Teilstücke in das Projekt eingehen sollen, liegen bereits vor.40 Selbst wenn ich dieses Projekt als Einzelkämpfer weiterführen sollte (es wären mir durchaus Mitstreiter willkommen, vor allem für die Aufarbeitung von SF in Sprachen, die ich noch nicht beherrsche), kann ich auf die tatkräftige Unterstützung von SF-Autoren, -Lesern, -Kritikern und -Enthusiasten, die meine Leidenschaft für die SF-Story teilen, nicht verzichten. Ich freue mich über jeden Kontakt mit SF-Kennern, die Informationen über bestimmte Autoren oder Magazine beisteuern, oder mit Sammlern und Clubs, die mir seltene Texte zugänglich machen könnten. Eine Hauptschwierigkeit wird die Beschaffung von Primärmaterial sein – vor allem älterer Magazine, Anthologien und Zeitschriften in den Originalsprachen -, und ich bin für jeden Hinweis auf günstige Quellen dankbar (ob sich gar der eine oder andere großzügige Förderer findet, der das Projekt mit Stiftungen unterstützen möchte, lasse ich offen). Ich bin neugierig, ob in der SF-Szene noch genug Interesse an der SF-Story vorhanden ist, um ein solches Projekt zu tragen. Einstweilen gilt mein Dank allen, die bisher wertvolle Unterstützung geleistet haben: Brian W. Aldiss, Greg Egan, Franz Rottensteiner und Carter Scholz.

Kontakt

Michael Iwoleit
Viernheimer Weg 8
40229 Düsseldorf
E-mail: mki@iacd.de

Dieser Artikel steht auch als druckfertig gelayoutetes PDF-File zum Download bereit:
Tribut an die SF-Story 108.55 Kb
(mind. Acrobat 4.0)


Anmerkungen

1 Playboy, November 1969.

2 Ursula K. LeGuin: The Wind’s Twelve Quarters, Bantam Books, New York 1981, S.119.

3 a.a.O. S.146f.

4 The Magazine of Fantasy and Science Fiction, Juni 1969.

5 The Magazine of Fantasy and Science Fiction, April 1959.

6 Ferman/Malzberg (ed.): Final Stage, 1974.

7 Terry Carr (ed): Universe 11, 1981.

8 The Magazine of Fantasy and Science Fiction, August 1954.

9 Barry N. Malzberg: The Engines of the Night, Doubleday, Garden City/New York 1982, S.141.

10 Galaxy, Oktober 1961.

11 New Worlds, September 1965.

12 Unter den Mainstream-Autoren, die Themen und Techniken der Science Fiction am nächsten kommen, scheint mir die Generation amerikanischer Nachkriegsautoren, die unter dem Stichwort „Postmoderne“ für einige Kritikerverwirrung und manche kultische Leserverehrung gesorgt hat, am wichtigsten zu sein, darunter Don DeLillo, William Gaddis, John Barth und natürlich Thomas Pynchon. Der Fairness halber sollte erwähnt werden, daß die Science Fiction erst in den Neunzigerjahren Stilisten hervorgebracht hat, die an das Schreibvermögen dieser Autoren annäherend heranreichen, etwa Neal Stephenson, Ian McDonald oder Greg Egan.

13 Asimov’s Science Fiction, November 1995.

14 Malzberg, a.a.O. S.135.

15 Gewöhnlich schweigt an solchen Stellen des Sängers Höflichkeit, und man drückt sich davor, die besagten Meisterwerke auch tatsächlich zu nennen. Lassen wir das mal. Hier meine Liste: More Than Human von Theodore Sturgen; A Canticle for Leibowitz von Walter M. Miller jr.; Earth Abides von George R. Stewart; Limbo von Bernard Wolfe; The Left Hand of Darkness und The Dispossessed von Ursula K. LeGuin; The Man in the High Castle, Ubik und Martian Time Slip von Philip K. Dick; The Fifth Head of Cerberus von Gene Wolfe; Barefoot in the Head von Brian W. Aldiss; Solaris von Stanislaw Lem; Pallas ou la tribulation von Edward Georges de Capoulet-Junac. Damit erhebe ich keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

16 Interessant ist eine Zwischenform, auf die SF-Autoren beim Übergang von der Story zum Roman immer wieder zurückgegriffen haben, nämlich der Roman in Novellen. Neben den Büchern von Sturgeon und Miller fällt mir noch Gene Wolfes The Fifth Head of Cerberus ein. Alle diese Büchern wurden jeweils aus drei thematisch verknüpften Novellen zusammengesetzt, und ich bin mir sicher, daß es noch weitere Beispiele gibt.

17 Malzberg, a.a.O. S.137.

18 Eine schon klassische Kritik der New Wave, die auch auf diesen Aspekt eingeht, ist Franz Rottensteiners Aufsatz „Erneuerung und Beharrung in der Science Fiction“ in: Eike Barmeyer (Hrsg.): Science Fiction, UTB/Wilhelm Fink Verlag, München 1972.

19 Für deutsche Leser empfiehlt sich die Lektüre des Artikels „Einige überhebliche Arten, sich der SF zu nähern“ in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr – Ausgabe 1993, Wilhelm Heyne Verlag, München 1993. Ich zitiere in Folgendem aus dem Aufsatz: „Science Fiction and ‚Literature‘ – or, The Conscience of the King“, in: Hartwell/Wolf (ed.): Visions of Wonder, Tor Books, New York 1996.

20 Ich ziehe das Wort „Modus“ der unsäglichen Passepartout-Vokabel „Diskurs“ vor, mit der in den letzten zwanzig Jahren unzählige Dummköpfe ihre pseudointellektuellen Elaborate veredelt haben.

21 Zitiert nach: Delany, a.a.O. S.448.

22 „A Workshop Lexicon“, Interzone September 1990.

23 Analog, Juni 1977.

24 Analog, Februar 1977.

25 Karl Michael Armer: „Think Small – Ein Plädoyer für die SF-Story“, in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr – Ausgabe 1986, Wilhelm Heyne Verlag, München 1986.

26 Interzone, Juli 1984.

27 Delany, a.a.O. S.445.

28 Ein Beispiel: Michael Nagula: „Keine Zukunft für SF?“ in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr – Ausgabe 1988, Wilhelm Heyne Verlag, München 1988.

29 In: Wolgang Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr – Ausgabe 2002, Wilhelm Heyne Verlag, München 2002.

30 Neuhaus, a.a.O. S.649.

31 Nebenbei sei erwähnt, daß die meisten heutigen Autoren, wenn sie vom „Internet“ reden, nur das World Wide Web meinen.

32 Natürlich erwähnt Neuhaus nicht die wichtigste SF-Story im Vorfeld des Internet-Booms, nämlich Venor Vinges „True Names“, in: James R. Frenkel (ed.): Binary Star 5, 1981.

33 Weird Tales, November 1933.

34 Neuhaus, a.a.O. S.656.

35 Etwa im Editorial zu Das Science Fiction Jahr – Ausgabe 1988, Wilhelm Heyne Verlag, München 1988.

36 John Brunner wies darauf im Vorwort zu einer Auswahl der besten Kurzgeschichten von Philip K. Dick hin.

37 Delany, a.a.O. S.445.

38 In seinem Nachwort zu: Eric Frank Russel: Major Ingredients, NESFA Press, Framingham/MA 2000.

39 Delany, a.a.O. S.445.

40 „Reductio ad absurdum – Die Science Fiction des David I. Masson“, in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr – Ausgabe 1993, Wilhelm Heyne Verlag, München 1993; „Jenseits der Tabula Rasa – Bemerkungen zur Science Fiction des Carter Scholz“, in: Quarber Merkur 89/90; „Update des Menschen – Trends in Greg Egans Kurzgeschichtenwerk“, in: Wolfgang Jeschke (Hrsg.): Das Science Fiction Jahr – Ausgabe 2002, Wilhelm Heyne Verlag, München 2002.