Jeff VanderMeer – Stadt der Heiligen & Verrückten

Stadt der Heiligen & Verrückten

Originaltitel: »City of Saints & Madmen«
Übersetzt von Erik Simon
Erzählungen, Hardcover
Klett-Cotta Verlag 2005
ISBN 3-608-93773-0, 500 Seiten, 25 Euro

Vor etlichen Jahren stieß ich zufällig auf eine alte Anzeige zu einem SF-Roman von Clifford D. Simak, in der etwa folgendes zu lesen war: »Nehmen Sie dieses Buch nicht zu ernst, denn auf diesem Weg lauert Wirrnis, wenn nicht der Wahnsinn …« Eigentlich ein fabelhafter Werbespruch. Allein die Idee, ein Buch könnte den Leser in den Wahnsinn treiben, schien mir damals (eigentlich heute noch) ziemlich reizvoll. Leider stellte sich heraus, daß Simak diesbezüglich recht harmlos war, und so begann eine lange Odyssee durch Buchhandlungen und Antiquariate, immer auf der Suche nach dem einen Buch, das dem alten Werbetext gerecht werden könnte. Nun habe ich es gefunden – »Die Stadt der Heiligen & Verrückten« könnte tatsächlich jenes legendäre Werk sein, das den Verstand der Leserschaft bis an die Grundfesten erschüttert.

Auf den ersten Blick handelt es sich bei »Stadt der Heiligen & Verrückten« um einen bibliophilen Sammelband von Erzählungen, die als Hintergrund die phantastische Stadt Ambra gemeinsam haben. Die erste Geschichte könnte noch als traditionelle Fantasyerzählung im Stil von Mervyn Peake durchgehen. Das Vorwort von Michael Moorcock weist in dieselbe Richtung. Doch dann folgt ein reichlich bizarrer Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra, der den Leser durch unzählige Fußnoten zermürbt, und eine weitere Erzählung, die durch kunsttheoretische Abhandlungen über einen Maler aus Ambra unterbrochen wird. Die vierte Erzählung, »Der seltsame Fall von X«, handelt von dem anonymen Autor der ersten Geschichte, der in einer Nervenheilanstalt landet. Vermeintlich, weil er die Stadt Ambra, die er beschrieben hat, für real hält – tatsächlich befindet sich die Anstalt ebenfalls in Ambra und alle Erinnerungen an die »Realität« sind Wahnvorstellungen.

Auf die Erzählungen folgt ein dreihundertseitiger Anhang, in dem Texte, Manuskripte, Broschüren, Bibliographien, Typoskripte und Notizen aus dem Nachlaß von X versammelt sind. Zum Teil Kurzgeschichten, Rätselhaftes aus den Buchhandlungen und Verlagen Ambras, wie z.B. die gelehrsame Monographie des fünfzig Meter langen Süßwasserkalmars, der in den Gewässern um Ambra heimisch ist. Als Zugabe gibt es ein Glossar mit zahlreichen Abbildungen, u.a. von merkwürdigen Büchern, die in Ambra zu Bestsellern wurden, wie z.B. »Die Folterkalmare mischen ein paar Priester auf«. Wer immer noch nicht genug hat, der lese die Kurzgeschichte, die auf dem Schutzumschlag abgedruckt ist, oder die Kurzbiographie Vandermeers, die so phantastisch klingt, daß sie wahr sein könnte.

Eine vernünftige Zusammenfassung des Buches ist eigentlich so gut wie unmöglich. Man muß das Ding selbst gesehen haben: Die wechselnden Schriftarten, die absonderlichen Illustrationen von Pilzen und Süßwasserkalmaren, die Referenzen, Fußnoten und Bibliographien, die alle auf undurchschaubare Weise miteinander verknüpft sind. Ein Prachtband, der zum müßigen Blättern und zur ungeordneten Lektüre einlädt. Immer wieder stößt man dabei auf Überraschungen, Merkwürdigkeiten, Phantasmagorien unerhörten Ausmaßes. Nur sollte man es nicht zu ernst nehmen, denn auf diesem Weg lauert …

Fazit: Der ungewöhnlichste Phantastik-Titel der Saison. Empfehlenswert für Bibliomanen, Kryptomanen, Phantasten und alle Freunde des monomanisch Absurden.